Neuer Tischtennisball: Ostfriesland attackiert Asien
Die Umstellung von Zelluloid- auf Plastikbälle mischt seit Langem die Tischtenniswelt auf. Eine Firma aus Ostfriesland hat einen revolutionären Ball entwickelt.
WEENER taz | Im Minutentakt fahren die LKW über die örtliche Industriestraße. Einige davon sind mit Tischtennisbällen beladen, Bällen, die in jahrelanger Arbeit entwickelt wurden und den asiatisch dominierten Tischtennismarkt erobern sollen. Die LKW kommen aus einer Firma am Ende der Industriestraße, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdient hat. In der Kleinstadt Weener, Kreis Leer, prägen eher Kuhweiden und Windräder das Bild. Mitten drin aber: Schornsteine, Öltanks, Bürogebäude und Lagerhallen –die einzige große Firma weit und breit: Weener Plastik.
Etwa 400 Menschen arbeiten hier. Die besten von ihnen haben mit Hightech-Geräten und den besten Tischtennisspielern der Welt einen neuen Plastikball entwickelt, der asiatische Großproduzenten alt aussehen lassen könnte. Und das aus dem Nichts: Mit Tischtennis hat Weener Plastik, wo man sich mit Kunststoff-Verpackungen auskennt, eigentlich nichts zu tun.
Im Juli 2014 hat der internationale Tischtennisverband (ITTF) Bälle aus Zelluloid bei seinen Wettkämpfen verboten und dafür Plastikbälle eingesetzt. Eine einmalige Chance für die Plastikspezialisten aus Ostfriesland. Für den Sport war die Umstellung eine Revolution, die eine über 100 Jahre währende Ära beendete, zumindest bei den Profis. Amateure spielen nach wie vor mit Zelluloidbällen: Die sind billiger.
Eine Frage der Sicherheit
Der Grund für das Verbot: Zelluloid ist leicht entflammbar und die Produktion gesundheitsschädlich, in großen Teilen gleicht sie sogar der von Nitroglycerin. Ein Bestandteil von Zelluloid ist Cellulosenitrat, besser bekannt als Schießbaumwolle, und unterliegt dem Sprengstoffgesetz. Deswegen muss Zelluloid als teures Gefahrengut transportiert werden. Der Paketdienst UPS liefert aus Sicherheitsgründen höchstens zwölf Zelluloidbälle gleichzeitig aus. Zum Bau von Rauch- oder Feuerbomben aus Zelluloid-Tischtennisbällen liefert Youtube Anleitungen.
Die ostfriesische Idylle draußen ist im Eingangsbereich von Weener Plastik schnell vergessen: Es gibt einen runden Empfangstresen, darüber eine Plastikkonstruktion mit Firmenname und -logo. In der Ecke stehen moderne Couches, Flyer weisen auf mehrere internationale Standorte der Firma hin. Eine Mitarbeiterin reicht ein Informationsblatt mit Vorschriften. Erstens: Alle Besucher müssen immer das Besucher-Namensschild tragen. Zweitens: Fotografieren ist in der Produktionsabteilung streng verboten.
Vor dem Empfangstresen grüßt der Leiter der Entwicklungs- und Innovationsabteilung Matthias Prox, ein groß gewachsener Mann im schwarzen Anzug, der die Plastikballentwicklung geleitet hat. Er bittet freundlich in einen Konferenzraum, auf dessen Tür der Name der ostfriesischen Insel Borkum gestanzt ist.
In den Produktionshallen arbeitet Prox’Firma nicht nur am eigenen Ball – sie zieht auch noch gegen einen anderen vor Gericht: Weener ficht ein Plastikballpatent an, das im Jahr 2006 der Student Thomas Wollheim und die Projektmanagerin Insook Yoo angemeldet haben und das 2012 bewilligt wurde. Besonderen Zündstoff bringt mit sich, dass Yoo die Ehefrau von Joachim Kuhn ist, ehemals ein Funktionär des ITTF: Bis ins Jahr 2013 saß er ausgerechnet im Materialkomitee des Weltverbandes und war somit an der Plastikeinführung beteiligt.
„Wir glauben, dass das Patent keinen Bestand hat“, sagt Prox. Er nennt es verwunderlich, dass bislang kein anderer dagegen vorgegangen ist. Von der Produktion eigener Plastikbälle hat das umstrittene Patent Weener Plastik aber genau so wenig abgehalten wie diverse asiatische Hersteller. Trotzdem hätten sie in Ostfriesland mehr Seelenruhe, wenn die Anfechtung erfolgreich wäre.
Yoo, Wollheim und Kuhn arbeiten mittlerweile zusammen in einer Firma in der Isolationsbranche, eigene Bälle produzieren sie wohl nicht. Die ITTF und Kuhn sind zerstritten, der Weltverband teilte den Plastikball-Herstellern sogar mit, um eventuelle Geldforderungen von Yoo würde er sich kümmern. Dass es zu solchen Forderungen der Patentinhaberin kommen könnte, davon war die Tischtenniswelt im vergangenen Jahr eine Weile lang ausgegangen. Prox hat bislang nichts Derartiges auf dem Tisch gehabt. „Der Einspruch ist in Prüfung, bis zu einer Entscheidung kann es noch Jahre dauern“, sagt er.
Das Kerngeschäft von Weener Plastik ist eigentlich ein ganz anderes: Plastikverpackungen. „Jeder in Deutschland hat vermutlich ein Produkt von uns zu Hause“, sagt Prox und zeigt auf ein meterlanges Regal hinter dem Konferenztisch. Darin stehen Verpackungen von Shampoos, Kosmetik- oder Nahrungsmittelartikeln, von Nuss-Nougat-Creme bis zu Deorollern. „Wir wollen aber nicht nur in unserem Stammgeschäft agieren, sondern gucken uns auch anderweitig um“, sagt er.
Bei der Tischtennisballentwicklung halfen aber ausgerechnet die Erfahrung mit den Deorollern: Hier wie dort werden Plastikhalbkugeln zusammengefügt. Anfangs spielten Prox und seine Kollegen noch mit den Deorollerkugeln Tischtennis, zur Probe. Bis zur Zulassung des Plastikballes dauerte es dann insgesamt drei Jahre. „Es gibt nur wenige Hersteller“, sagt Prox, „weil die Entwicklung so schwierig ist.“ Die Konkurrenz: ein japanischer Hersteller und drei chinesische. Bei der diesjährigen Tischtennis-Europameisterschaft etwa kamen die Bälle der japanischen Marke Nittaku zum Einsatz.
Hohe Geheimhaltungsstufe
Die Fertigung in Weener ist streng geheim, kein Außenstehender bekommt sie zu sehen. Vielleicht aus Angst, die Konkurrenz könne sich die Informationen sonst zu Nutzen machen oder gar etwas kopieren. Schon seine Worte aber wählt Prox vorsichtig: Produktionskosten? Produktionsmenge? Kein Kommentar. Die Konkurrenten will er erkennbar auch nicht schmähen. Auf die Frage, ob er seine Bälle im Vergleich zu den asiatischen besser findet, antwortet er: „Wir glauben, dass wir einen sehr guten Ball herstellen.“ Und grinst.
Die Produktion eines Tischtennisballes ist aufwändig. Es gilt, in Experimenten die richtigen Kunststoffverbindungen zu ermitteln, die Kriterien des Weltverbandes –Durchmesser, Gewicht, Flugbahn – zu erfüllen. Und, für die Spieler am Wichtigsten: Die Plastikbälle sollen möglichst genau so sein, wie es Zelluloidbälle wären.
Eben das war nach der Umstellung ein Problem: Die ersten asiatischen Bälle verwirrten manche Spieler. Sie machten „Plock“ statt „Ping-Pong“ und flogen je nach Hersteller mal höher, mal tiefer, oder verloren schneller an Geschwindigkeit als Zelluloidbälle. Als „maximal mittelmäßig“ bezeichnete Einzel-Europameister Dimitrij Ovtcharov die ersten Plastikspielgeräte.
An den Wänden vor den Produktionshallen ist eine Galerie aus Glaskästen mit hunderten verschiedener Plastikdeckel und Verpackungen ausgestellt. Der neue Tischtennisball ist nicht darunter. „Noch sind wir Außenseiter, weil wir neu sind“, sagt Prox. Aber man wolle schon bald eine wesentliche Rolle spielen. Bislang klappt das ganz gut: Weener liefert seine Bälle an Butterfly aus, einen der größten Ausrüster, der Tischtennis-Nationalmannschaften und -Profis wie Timo Boll ausstattet.
In den Produktionshallen zeigt Prox seine Werkzeuge. Keine Schraubenzieher oder Zangen – tonnenschwere Maschinen, die aus 300 bis 400 Teilen bestehen und jeweils nur ein einziges, winziges Teil herstellen können. Die Kappe einer Shampoo-Flasche zum Beispiel.
Den Tischtennisball entwickelte die Innovationsabteilung der Firma. Auch dort stehen riesige Maschinen, an denen Kabel und Schläuche hängen. Materialmischung, Flugbahn, Aufprallhöhe, alles mussten die Mitarbeiter selbst erforschen. „Das kostet“, sagt Prox über die Entwicklungszeit.
Produktion und Auslieferung laufen bereits. Die ITTF hat den Ball genehmigt und ihn in die höchste Kategorie aufgenommen: drei Sterne. Damit kann er bei internationalen Spielen verwendet werden. 2016 finden die nächsten Mannschaftsweltmeisterschaften in Kuala Lumpur statt, 2017 die Einzelweltmeisterschaft in Düsseldorf. Hat sich der Ostfriesen-Plastikball bis dahin durchgesetzt, wird die Tischtenniswelt nicht mehr um ihn herumkommen.
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