Mit dem Dolch in der Hand

Porträt der Künstlerin als junge Frau: Siri Hustvedt hat einen vielschichtigen Roman über eine aufstrebende Nachwuchsautorin in New York geschrieben. Er heißt „Damals“

An Dickens vorbeilaufen: Die Zeichnungen im Roman stammen von Siri Hustvedt selbst Illustration: Siri Hustvedt/Rowohlt Verlag

Von Katharina Granzin

Zeichnen kann sie also auch noch. Die Illustrationen in Siri Hust­vedts neuem Roman stammen sämtlich von ihr selbst, auch die hübsche Cover-Vignette, auf der eine nackte junge Frau zu sehen ist, die mit weit ausgebreiteten Armen in den Himmel von New York abzuheben scheint. In der rechten Hand hält sie einen Dolch. Dieser spielt eine gewisse Rolle im Roman, doch erst beim Betrachten der Zeichnung fällt so recht auf, dass er unter anderem ein Phallussymbol ist. Seine steil nach oben gerichtete Klinge, und auch das ist sicher kein Zufall, nimmt die Form des im Hintergrund aufragenden Empire State Building auf.

„Damals“ ist eine Reise in die Vergangenheit. In die Jugend einer Erzählerin mit den Initialen S. H., die, ausgehend vom Fund eines alten Notizbuchs, ihr erstes Jahr in New York literarisch rekonstruiert. Die Handlung spielt 1978/79, und die Protagonistin ist 23, dann 24 Jahre alt. Diese Ich-Erzählerin – die natürlich nicht identisch ist mit der Autorin, aber aus deren Leben schöpft oder geschöpft wurde – kommt im Roman in mehrfacher Ausführung vor: als alternde Schriftstellerin von 64 Jahren, die in ihrem Haus in Brooklyn sitzt und schreibt. Als junge Ambitionierte, die in einem schäbigen kleinen Apartment wohnt, ausgiebig Tagebuch führt und damit einen eigenen kleinen Roman über ihr Leben in New York verfasst. Und als Autorin eines Detektivromans, an dem die 23-Jährige während ihres ersten Jahres in New York herumschreibt.

Spitzname Minnesota

So konstruiert dieses Drei-Ebenen-Opus erst einmal klingen mag, so unangestrengt ist es geschrieben und lässt es sich lesen. Die glänzende Stilistin, die Siri Hustvedt ist, sowie das Übersetzerduo Uli Aumüller und Grete Osterwald – die einen überzeugenden Beweis dafür liefern, dass gemeinsames Übersetzen sehr wohl möglich ist – sorgen dafür. Das Einzige, was mitunter etwas wortreich gerät, sind die Passagen aus dem Detektivroman. Aber das, könnte man einwenden, müsse so sein, da die junge Autorin ja noch übe.

Im Tagebuch der S. H., die von ihren Freunden „Minnesota“ genannt wird – denn da kommt sie her –, entwickeln sich zusätzlich noch zwei Geschichten nebeneinanderher. Die eine ist ein Ausschnitt aus einem ganz normalen Entwicklungsroman und handelt vom Leben eines jungen Ichs, das Schriftstellerin werden möchte, nach New York zieht, sich in der fremden Stadt Freundinnen, Freunde und Liebhaber sucht, zwischendurch aus Geldmangel an Hunger leidet, aber durch einen Job als Ghostwriterin für eine Dame der upper class vor drohendem Elend gerettet wird. Diese Story wird von der älteren Erzählerin mit vierzig Jahren Abstand ergänzt und kommentiert.

Die andere Geschichte spielt sich hinter der Wand des schäbigen Apartments ab, in dem die junge Autorin haust. Nebenan wohnt Lucy Brite, eine Frau mittleren Alters, die allnächtlich eine ebenso tieftraurige wie ruhestörende Klagelitanei anstimmt. Telefonate mysteriösen Inhalts kommen hinzu: Da geht es um ein Mädchen, das aus dem Fenster gefallen ist, und einen möglicherweise gewalttätigen Mann? Und um einen verkrüppelten Gärtner? Oder hat Minnesota sich verhört?

Begegnungen mit Männern

Besessen vom Wunsch, Lucys ganze Geschichte zu erfahren, lässt sie sich von zu Hause ein altes Stethoskop schicken, damit sie besser an der Wand horchen kann. Durch einen dramatischen Vorfall kommt sie schließlich ihrer Nachbarin und deren geheimnisvollen Freundinnen tatsächlich näher …

Siri Hustvedt: „Damals“. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, Hamburg 2019, 448 Seiten, 24 Euro

Das Resultat der kunstvollen Verquickung dieser Teilerzählungen samt ihrer retrospektiven Kommentierung ist eine Art Erzählkaleidoskop, ein Mosaik aus vielen verschiedenen Elementen, aus denen sich bei jeder neuen Drehung ein etwas anderes Muster formt. Alle zusammen ergeben ein schillerndes, lebendiges Bild des Lebens im New York der späten siebziger Jahre – oder zumindest einen kleinen Ausschnitt davon. Kreative, Intellektuelle, Reiche, Arme, Verschrobene und Verrückte bevölkern das Buch. Die meisten sind Frauen; Männer spielen Nebenrollen, wenngleich manchmal wichtige.

Die Erzählerin – die alternde sowieso, aber auch die junge lernt dazu – seziert ihre zwischengeschlechtlichen Begegnungen. Warum glaubt ein Mann, der eben noch sympathisch schien, das Recht zu haben, seine Frau vor anderen Menschen zu maßregeln? Warum wartet sie selbst, die Erzählerin, nach einer Party auf einen Mann, von dem sie eigentlich gar nicht nach Hause gebracht werden will? Warum ruft es solche Aggression in ihm hervor, als sie seine sexuellen Avancen zurückweist?

Die herablassende Sicht der Männer, denen sie begegnet, auf Frauen, auf sie selbst, ist ein immer mehr an Bedeutung gewinnendes Motiv. Minnesotas wachsender Zorn, gepaart mit einem Gefühl der Bedrohung, manifestiert sich schließlich in einem Dolch – wir kennen ihn von der Coverzeichnung –, den eine Freundin ihr schenkt. Sie nennt ihn „die Gräfin“, nach der Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven, die sehr wahrscheinlich diejenige war, die im Jahr 1917 ein Pissoir als Kunstwerk deklarierte und unter Pseudonym für eine Ausstellung einreichte. Den späteren Weltruhm für diese frühe Konzeptkunst erntete jedoch nicht sie selbst, sondern Marcel Duchamp.

Diese wichtige genderthematische Unterströmung bildet letztlich aber nur eine Ebene des vielschichtigen Romans. Vor allem anderen ist dieses Buch ein beziehungsreiches Spiel mit Fiktion und Realität und eine anregende Reflexion über das Geschichtenerzählen an sich. Und eine bedingungslose Liebeserklärung an New York mit seinen unendlichen narrativen Möglichkeiten.