Neuer Roman von Nell Zink: Flora und die Familienmuster
Nell Zink kann verdammt lustig schreiben und politisch scharf analysieren. In „Das Hohe Lied“ zieht sie einen großen Bogen von Punk bis Trump.
Produktive Verwirrung zu stiften gehört zu den stilistischen Mitteln der US-Autorin Nell Zink, und vielleicht ist auch deshalb auf der deutschen Ausgabe ihres neuen Romans „Das Hohe Lied“ zu lesen: „Drei Frauen gehen ihren Weg“. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Sogar durchaus heikel ist dieser Reklamespruch, weil die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge in der Familie genauso wie auf der kulturellen und politischen Bühne ein zentrales Thema des vielschichtigen Romans ist.
Am Anfang lernen wir zunächst einmal Joe Harris kennen, der unter dem genetisch bedingten Williams-Syndrom leidet. Er muss mit einem Herzfehler und einer gestörten räumlichen Wahrnehmung zurechtkommen, darf sich aber auch über seine sprachliche und musikalische Hochbegabung freuen.
Anders als die auktoriale Erzählerin – und wir als lesendes Publikum – weiß weder Joe noch sein Umfeld von der Krankheit, weil er nie auf das Syndrom getestet wurde, was durchaus eine Herausforderung für seine Umgebung ist, denn „sein Talent, andere zu irritieren, war schier grenzenlos. Er sagte immer, was er dachte, und vertraute jedem, den er traf.“
Dieser so sympathische wie seltsame Held verliert früh seine Mutter, wird vom Vater, einem Professor für amerikanische Geschichte, liebevoll durch die Schulzeit begleitet, und irgendwann in den späten 1980er Jahren lernt er in New York die Punkerin Pam und den Möchtegern-Independent-Musikmanager Daniel kennen. Zusammen gründen sie eine so mittelmäßige Band, dass bis auf Joe, der immer optimistisch bleibt, alle wissen, dass dieses Trio wohl eher nicht Musikgeschichte schreiben wird.
Nell Zink: „Das Hohe Lied“. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, 508 Seiten, 25 Euro
Pam arbeitet für eine EDV-Beratungsfirma, Daniel schlägt sich als Korrekturleser einer großen Anwaltskanzlei durch. Job und Karriere sind den beiden allerdings weniger wichtig als ihr Lebensgefühl, das von viel Sex, allerlei Drogen, einer starken Dosis Selbstironie und dem Wunsch geprägt ist, möglichst viel Zeit mit Kunst und Musik zu verbringen.
Als stünde die Seele in Flammen
Da Marmalade Sky, so der Name ihrer skurrilen Band, wie erwartet nicht reüssiert, wollen Pam und Daniel zumindest die Solokarriere ihres Freundes unterstützen, dessen eigenwilliger Stil in den nun angehenden 1990er Jahren ein wachsendes Publikum findet: „Joes Stimme und das Mahlen der unzerstörbaren Aluminium-Lautsprechermembrane seiner wackeren Hartke-Box durchschnitten den Dunst aus Feedback, der von dem gequälten Marshall ausging, und er sang seine allerfeinsten Nonsense-Texte, als stünde seine Seele in Flammen.“
Man muss kein Punkrock-Spezialist sein, um eine Ahnung zu bekommen, wie sich diese Musik anhören könnte. Joe jedenfalls entwickelt sich vom Independent-Geheimtipp zum Mainstream-Megastar.
Nell Zink gelingt es im ersten Drittel ihres Romans, diese Heldenreise mit einer so bissigen wie detailreichen Milieustudie des amerikanischen Musikbusiness zu verknüpfen, dass zeitweilig völlig unklar ist, auf was die kommenden zwei Drittel hinauslaufen werden.
Charaktere aus der Indie-Szene
Im entscheidenden Moment aber verschiebt sich der Fokus der Erzählung. Die mehr oder weniger dubiosen Charaktere aus der Indie-Szene treten in den Hintergrund, die Familienbeziehungen der Hauptfiguren werden wichtiger, auch weil Pam und Daniel ein Baby bekommen.
Die kleine Flora begeistert nicht nur Eltern und Großeltern, sondern eben auch Joe, der neben seinen Studio-Sessions und Live-Konzerten den Babysitter gibt: „Flora stand daneben, wenn er Psychotiker nach ihren offenen Beinen fragte oder, im selben Tonfall unbeteiligter Faszination, einen Eisverkäufer nach seinen Sorten. Er war blind für Klassenunterschiede und kannte keine Grenzen, die er selbst hätte ziehen können.“
Dieser Mann, der singend und dauerredend mit Flora durch die Straßen New Yorks zieht, ist nicht nur für das Mädchen ein role model. Joe erfüllt erzähltechnisch auch eine wichtige Spiegelfunktion für die Lebensläufe von Pam und Daniel, die ihn um seine kreative Leichtigkeit beneiden.
Der 11. September 2001
Umso erstaunlicher, dass Nell Zink ihn mitten im Roman und ausgerechnet am 11. September 2001 an einer Überdosis Heroin sterben lässt. Dieser krasse Wendepunkt ist aber keineswegs Effekthascherei, er verleiht dem folgenden Geschehen vielmehr einen weiteren Subtext, der von der Schwierigkeit handelt, bei der Wahrheit zu bleiben.
Pam und Daniel erzählen Flora nämlich nicht, wie Joe gestorben ist, so wie sie ihrem Kind auch vorenthalten, dass die liebe Großmutter Ginger ihre Tochter Pam einst verprügelt hat.
Flora wächst in behüteten und zugleich alternativen Familienverhältnissen auf, die sie zeitlebens prägen werden. Sie ist nicht nur ein digital native, sondern lebt auch ziemlich naiv in ihrer politischen Blase. Sie will die Welt retten, arbeitet für den Wahlkampf der amerikanischen Grünen und bemerkt zu spät, dass ihr Engagement dem politischen Feind hilft. Genüsslich legt Nell Zink die Lebenslügen der geschilderten drei Generationen offen, ohne dabei die Figuren grundlegend zu beschädigen.
Einige gescheiterte Affären
Der bittere Witz insbesondere bei Flora ist, dass ihr Leben erst im Spiegel sehr unterschiedlicher Männer interessant wird: Der sensible Joe bleibt einerseits ein Maßstab, andererseits fühlt sie sich nach einigen gescheiterten Affären zu einem schillernden Politikberater der Demokraten hingezogen, der mit einem zynisch-realistischen Blick auf die politischen Verhältnisse in den USA den Aufstieg Donald Trumps vorherzusagen weiß.
Ohnehin gibt sich Nell Zink in diesem Roman sehr viel Mühe, die Männer doppelbödig und furios zu charakterisieren, während bei den Frauenfiguren vor allem das (Nicht-)Zusammenspiel der Generationen herausgearbeitet wird.
Ironie ist allgegenwärtig
Die zahlreichen Pointen in den temporeich erzählten Episoden, die zwischenzeitlich sogar in Äthiopien spielen, verfolgen keinen Selbstzweck. Die allgegenwärtige Ironie, vor allem in den rasanten Dialogen, zeigt auch den grundlegenden Defätismus all jener, die sich für fortschrittlich halten.
Daniel kann dem grünen Aktivismus seiner Tochter jedenfalls nur mit politischem Galgenhumor begegnen, über den sich Flora wiederum amüsiert. „Wenn sie ihrem Vater von den Grünen erzählte, reagierte er mit surrealen Warnungen vor dem Tag des Zorns und den gut organisierten Milizen des Zweiparteiensystems.“
Aus dem Familienroman entwickelt sich ein politisches Drama. Trump, der Mann, dem nichts heilig ist, wird nicht zuletzt mithilfe von Leuten Präsident, die ständig das hohe Lied der Religion anstimmen.
Trump als Wüterich
Pams Vater ist ein strenggläubiger Republikaner, und als er begreift, dass Trump auch im höchsten Amt als rücksichtsloser Wüterich auftritt, zieht er sich resigniert mit einer Eisenhower-Biografie zurück in den Lehnstuhl. Wahrscheinlich wird er aber auch bei der nächsten Wahl für Trump stimmen. Weil die alten Freund-Feind-Schemata eben doch wirkmächtiger sind als die Einsicht, einen Fehler zu machen.
Pam und Daniel stehen den politischen Veränderungen nicht minder ratlos gegenüber. Weil sie, wie so viele in ihrer Generation, die den angeblich so coolen Eighties nachtrauern, sich vor allem ums eigene Wohlergehen kümmern.
So witzig Nell Zink zu erzählen vermag, so deutlich ihre politische Analyse: Der Erfolg der Lügenpropaganda aus dem Weißen Haus ist auch mit den starren Familienmustern und festgefügten gesellschaftlichen Rollen jener US-Bürger zu erklären, die sich als Gegner des grassierenden Trumpismus begreifen.
Ihr bislang stärkster Roman
„Das Hohe Lied“ ist Nell Zinks bislang stärkster Roman, weil sie darin die für sie so typische Crash-Ästhetik etwas zurücknimmt (zum Glück nicht zu viel), weil sie den Humor auch für eine nuancenreiche Figurenzeichnung nutzt und weil sie einmal gesetzte Themen auf erstaunlich vielen Ebenen durchspielt.
Tobias Schnettler, der den Roman ins Deutsche übertragen hat, ist Zinks dritter Übersetzer im Rowohlt Verlag. Gab es bei den vergangenen Büchern an einigen Stellen minimale, für Zinks Sprachperfektion aber doch unschöne Diskrepanzen zwischen der englischen und deutschen Version, scheint die Zusammenarbeit nun zu gelingen.
Die Autorin, die im US-Staat Virginia aufgewachsen ist, lebt im brandenburgischen Bad Belzig, spricht nicht nur gut Deutsch, sondern hat in Tübingen auch über ein medienwissenschaftliches Thema promoviert. Literatur aber verfasst sie in ihrer Muttersprache, in der sich mit einer zärtlichen Radikalität austoben kann, die bis zuletzt für Überraschungen sorgt: Die verdrehten Liebeslieder, die Joe einst sang, klingen noch einmal an, wenn das Buch mit einem bewusst herzzerreißenden Finale schließt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los