Neuer Roman von Karl Ove Knausgård: Schwelende Konflikte

Der Starautor Karl Ove Knausgård erweist sich als extrem guter Erzähler, der sich Probleme einhandelt. „Der Morgenstern“ heißt sein neuer Roman.

Porträt des Schriftstellers Karl Ove Knausgård mit Zigarette

Ein Charisma wie die Nordsee selbst, tief und rau und überhaupt: Karl Ove Knausgård 2022 Foto: Beatrice Lundborg/DN/TT/imago

Ein neuer Planet am Himmel verheißt selten was Gutes, das weiß man spätestens seit Lars von Triers Endzeitfilm „Melancholia“. Auch in „Der Morgenstern“, dem neuen Roman des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård, starrt die Welt staunend nach oben: Ein Feuerball ist am Himmel erschienen.

Knausgård schreibt nun also Science-Fiction, könnte man denken. Das ist neu für den 53-Jährigen, der dafür berühmt wurde, sein Leben in autofiktionalen Riesenromanen zu sezieren. Seit seinem sechsbändigen Zyklus „Min Kamp“ („Mein Kampf“) gilt er als einer der letzten Vertreter eines aussterbenden Typus: des männlichen „Autorengenies“.

Knausgård inszeniert sich als Typ mit einem Charisma wie die Nordsee selbst, tief und rau und überhaupt, dazu selten verlegen um eine Provokation. Vor Jahren lobte er die rechte Partei „Fremskrittspartiet“ als „Segen“.

In seinem neuen Roman bricht Chaos auf der Welt aus, während der besagte Stern am Himmel leuchtet. Ein klinisch totes Unfallopfer erwacht wieder zum Leben, die Mitglieder einer Metal-Band werden bestialisch ermordet, komische Vögel kreisen am Himmel. Der Sommer flirrt – je nach Lichteinfall – melancholisch oder dystopisch.

Karl Ove Knausgård: „Der Morgenstern“. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2022, 896 Seiten, 28 Euro

Ganze neun Ich-Er­zäh­le­r:in­nen werden auf fast 900 Seiten eingeführt. Knausgårds Fans verehren den Viel- und Langschreiber als großen Entschleuniger, seine Kri­ti­ke­r:in­nen unterstellen ihm „literarisches Manspreading“.

Meister der Selbsterkundung

Dabei ist es nicht mal so, dass der Erzähler Knausgård die Bühne breitbeinig betritt. Eher gesellt er sich unaufdringlich zur Leserin und erzählt sie am Stuhl fest, indem er auch fürs Nebensächlichste gute Bilder findet: „[…] ihr Gesicht war irgendwie entflammt, nachdem sie draußen gewesen war, war noch zu groß für die kleinen Zimmer im Haus.“

Ein wenig ähnelt er als Erzähler seinen männlichen Figuren, die sogar Fremde zum Bleiben (und Trinken) überreden können. Erst geht es dabei meist ums akute Überwinden der Einsamkeit, dann folgen die gewichtigen Gespräche. In „Morgenstern“ ist es vor allem die Figur des Egil, ein Dokumentarfilmer, der Knausgård als Ventil für Essay-Einschübe über die Suche nach Glauben und Sinnhaftigkeit dient.

Es ist keine Überraschung, dass ein Schriftsteller, der als Meister der Selbsterkundung berühmt wurde, vor allem männliche Figuren mit Tiefe schreibt. „Der Morgenstern“ ist bewohnt von jungen Frauen, die älteren Männern verfallen, und nicht mehr ganz jungen Frauen, die sich mit einem Leben ohne Höhepunkte abgefunden haben; von wütenden Kindern und räumlich oder emotional abwesenden Vätern. Der Literaturprofessor Arne, der zerrieben wird zwischen familiären Verpflichtungen und der Sehnsucht nach Laisser-faire, ist einer von ihnen.

Orientalistische Fantasien

Andere Charaktere überzeugen weniger. Der jungen Iselin schiebt Knausgård orientalistische Fantasien unter, die kaum zu einer weiblichen Figur im Studentenalter passen. Später denkt Kathrine, eine Figur um die 40, beim Kauf eines Schwangerschaftstests über die großen Brüste der Verkäuferin und das Vorurteil nach, dass „Frauen mit runden Formen fruchtbarer waren als schlanke Frauen“.

Trotz solcher Momente ist vor allem die erste Hälfte des Romans, die den ersten Tag nach Auftauchen des Morgensterns beschreibt, ziemlich faszinierend. Knausgård wühlt Konflikte auf, deutet Verbindungen zwischen seinen Figuren an, legt Fährten. Viele werden ins Leere laufen.

Vor Problemen steht man allerdings, sobald man sich fragt, wie der Erzähler Spannung und Grusel erzeugt. Oder vielmehr: auf wessen Kosten. Unbehagen bereitet die Geschichte von ­Turid, die in einer Einrichtung für behinderte Menschen arbeitet. Die Bewohner dieses Heims schauen ihre Pflegerin mit „bösen Augen“ an, onanieren permanent. Keiner dieser eigentlich vulnerablen Männer ist ein Charakter mit Geschichte, jeder ein demonstrativ unheimlicher Statist, der die verkehrte Welt im Bann des Morgensterns noch verkehrter erscheinen lassen soll.

Er zitiert sich selbst

Ähnlich sieht die Sache mit Tove aus, die eine bipolare Störung hat. Im Studium, sei sie ein Faszinosum gewesen; viel mehr erfährt man nicht über die Künstlerin und dreifache Mutter. Im Romanverlauf verschlechtert sich ihr psychischer Zustand: Wie ein Gespenst wandelt sie durch das Ferienhaus der Familie, tötet in ihrer Unrast Kätzchen und ängstigt ihre Kinder. Die Frau ohne Eigenschaften ist kaum mehr als ein Effekt, ein besonders dissonanter Ton im Grundrauschen aus schwelenden Konflikten und Ereignissen wider der Natur.

Besonders bemerkenswert ist diese Figur, wenn man tut, was man nicht lassen kann (oder lassen soll): mit voyeuristischem Interesse nach Bezügen zu Knausgårds Leben suchen. In seiner „Min Kamp“-Reihe hatte Knausgård ausführlich die bipolare Erkrankung seiner früheren Ehefrau Linda Boström Knausgård thematisiert. Dem Guardian erzählte sie 2020, wenige Jahre nach ihrer Scheidung, wie wütend und verletzt sie über die Darstellung ihrer Person war.

Trotzdem fährt Knausgård erneut eine manisch-depressive Frauenfigur auf. Auch an anderer Stelle wiederholt oder zitiert er sich selbst: Einmal mehr wird in „Morgenstern“ ein romantisches Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin angedeutet. Schon Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ von 1998 handelte von einem Lehrer, der eine 13-jährige Schülerin missbraucht.

Ausbeuterisches Schreiben

Im deutschen Feuilleton wurde der Roman 2020 recht freundlich aufgenommen. In Schweden hingegen, wo „Aus der Welt“ schon fünf Jahre zuvor erschienen war, galt das Buch als Skandal. Die Literaturwissenschaftlerin Ebba Witt-Brattström warf Knausgård „literarische Pädophilie“ vor. Auf die Vorwürfe reagierte der Autor mit einem wütenden Verteidigungsartikel.

In „Morgenstern“ ist es die junge Iselin, die Gefühle für ihren Lieblingslehrer hegt. Jahre nach ihrem Abschluss wird sie von ihm zu einem Treffen eingeladen, das schwer nach Date aussieht – um dort von der Anwesenheit seiner Partnerin überrascht zu werden. Hier ist Iselin diejenige, die einen beschämten Abgang macht.

In der Debatte um „Aus der Welt“ bescheinigte die Autorin Berit Glanz Knausgård ein „ausbeuterisches“ Schreiben: Dem Roman fehle die Gegenper­spek­tive zur Männerfigur, dazu die Ambivalenz, die etwa Nabokovs „Lolita“ ausmache. Falls ­Iselins Geschichte Knausgårds Versuch ist, diesmal der Schülerinnenperspektive mehr Raum zu ­geben, dann ist es ein sehr ­halbherziger.

Ambivalenz bis zum Äußersten

Überhaupt präsentiert sich Knausgård in „Der Morgenstern“ als extrem guter Erzähler, der sich durch Ignoranz neben moralischen auch ästhetische Probleme einhandelt. Und das, obwohl er die Sache mit der Ambivalenz sonst bis zum Äußersten treibt: ­Anders als Lars von Trier im Film „Melancholia“ lässt er die Welt nicht mit einem Knall untergehen, sondern auf einen Jüngsten Tag mit unklarem Ausgang zusteuern. Der titel­gebende Morgenstern kann in der Bibel schließlich sowohl für Jesus als auch für den Teufel stehen.

Mark Fisher hat mal geschrieben, es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Für Knausgård gilt vielleicht auch: als eine Welt, in der andere kein Material sind, über das ein Schöpfer unbegrenzt verfügen kann.

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