Neuer Roman von Jonathan Lethem: Brutal lebendig
Ein Höllentrip durch die eigene Familiengeschichte und die der amerikanischen Linken: Ein Gespräch mit Jonathan Lethem über „Der Garten der Dissidenten“.
Sergius weicht mit seinem Flugzeug allen Doppeldeckern im Ersten Weltkrieg aus, taucht unter allen Kampfflugzeugen im Zweiten Weltkrieg durch und entkommt auch auf den anderen Levels allen Kampfjets und feindlichen Flugobjekten, ohne den roten Knopf seines Joysticks zu drücken.
Beim Videospiel „Time Pilot“ ist aber für das bloße Überleben keine Belohnung vorgesehen. Punkte gibt es nur für das Abschießen, das Morden. Mit einem Punktestand von Null ist Sergius ein Verlierer. Aber er ist in dem neuen Roman des Schriftstellers Jonathan Lethem auch ein Sieger: Er hat aus einem Spiel, das als Massaker entworfen wurde, eine pazifistische Demonstration gemacht.
„Der Garten der Dissidenten“ heißt dieser jetzt auf Deutsch erscheinende Roman. Sergius spielt darin nicht nur in dem Videospiel die Rolle des Zeitpiloten. Er ist der Zeitpilot, mit dem wir durch den Roman reisen. Ein Roman, der nichts Geringeres als ein Trip durch das europäisch-amerikanische 20. Jahrhundert ist.
Jonathan Lethem: „Der Garten der Dissidenten“. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Tropen/Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 476 Seiten, 24,95 Euro.
Ein Höllentrip auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Härte der jüdischen Großmutter, die mit ihrer Familie aus Polen vor den Nazis nach New York fliehen musste, und der Härte der jüdischen Mutter aus New York, deren Vater mit seiner Familie aus Lübeck vor den Nazis nach York geflohen war. Beide, Großmutter und Mutter, setzten ihr ganzes Leben für ihre revolutionären politischen Ideale ein – und lassen dafür ihren Enkel und Sohn im Stich.
Die Genealogie New Yorks
Auch Jonathan Lethem kennt die Wahrheit über seine jüdische Großmutter nicht. Was er weiß: Sie war eine Opernsängerin aus Lübeck, die mit ihrer Familie vor den Nazis nach New York floh. Als er Teenager war, starb sie. Sergius ist also das Alter Ego Lethems.
Seit Januar ist der amerikanische Bestsellerautor Fellow an der American Academy in Berlin-Wannsee. Auf der Couch im Wohnzimmer des Chauffeurhauses sitzend, erzählt er trotz früher Stunde enthusiastisch und mit funkelnden Augen über die persönlichen Hintergründe.
„Ich wollte verstehen, warum meine Großmutter so war, wie sie war, so eigenwillig und hart, so unbedingt das Leben in der Stadt, die Bücher, die Freiheit, Amerika verteidigend und so gnadenlos alle Menschen verachtend, die das Leben auf dem Land besser fanden, und jeden verurteilend, der nicht so dachte wie sie. Und dazu musste ich in die Geschichte zurück“, sagt der 1964 in Brooklyn geborene Autor.
Sein neunter Roman ist aber nicht bloß die Aufarbeitung seiner eigenen Familiengeschichte. Anhand dreier Generationen liefert Lethem die Genealogie New Yorks, die „DNA“ der Stadt, wie Lethem es nennt, und die ist eben jüdisch, europäisch und revolutionär.
Immer wieder verraten
Mit „Motherless Brooklyn“ (1999) und „Festung der Einsamkeit“ (2003) hat er seinem Stadtteil die schönsten Liebeserklärungen geschenkt, längst wird er als Chronist der Gentrifizierung New Yorks gefeiert. Nun tritt Lethem in die Fußspuren so großer amerikanischer Erzähler wie Saul Bellow oder Philip Roth, die den Kampf um Selbstbehauptung und Identität säkularer Juden im New York der Nachkriegszeit zu Weltliteratur gemacht haben.
Aber Lethem macht es geschickt, er tritt leicht neben die Fußspuren. Mit dem Aufmarsch der Generationen lässt er auch die gescheiterten Formen revolutionärer Utopien der amerikanischen Linken am Leser vorbeiparadieren: von der KP, deren Mitglied Großmutter Rose war, über die Hippiebewegung, zu der Mutter Miriam gehört, bis zur Occupy-Bewegung, der sich Enkelsohn Sergius anschließt.
Und trotzdem: Warum hat er sich nun ausgerechnet der Geschichte gewidmet, über die schon so viel erzählt worden ist, der Geschichte jüdischer New Yorker? „Es ist nun mal eine amerikanische Legende, dass wir die europäische Geschichte überwunden haben. Aber tatsächlich haben wir sie nur verdrängt. Sie ist immer noch mitten unter uns, macht etwas mit uns, ob wir das wollen oder nicht. Noch 1974 erschien mir der Holocaust wie ein antiker Mythos. 2014 scheint er mir näher zu sein als vieles andere“, sagt er.
Lethem gehört zu den derzeit wichtigsten amerikanischen Autoren. Als Nachfolger von David Foster Wallace unterrichtet er Kreatives Schreiben am kalifornischen Pomona College. Dass er ausgerechnet jetzt für ein paar Monate in Berlin lebt, ist Zufall. Zu Fuß könnte er zum Haus der Wannseekonferenz laufen, dorthin wo die Vernichtung der europäischen Juden geplant wurde.
Unerbittlich kämpfend
Zögerlich nur antwortet er auf die Frage, wie er Berlin finde. Er möchte nicht beleidigend klingen und entschuldigt sich mehrfach, bevor er sagt: „Berlin ist unvollendet. Die Gegenwart der Vergangenheit ist hier ist so lebendig. Brutal lebendig. Unter der Haut des Alltags spüre ich sie ständig.“
Brutal lebendig. Besser könnte man Rose Zimmer, die Großmutter und Hauptfigur in „Der Garten der Dissidenten“, nicht beschreiben. Von der Geschichte immer wieder enttäuscht und verraten – wegen einer Affäre mit einem schwarzen Polizisten wird sie aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossenen, ihren deutschen Ehemann verliert sie an die DDR, ihre Tochter an die nicaraguanische Revolution –, ersetzt sie Jahwe erst durch Stalin und dann durch Lincoln und endet schließlich als gefürchtete Blockwärtin ihrer jüdischen Wohnsiedlung.
Unerbittlich gegen Autoritäten und Hierarchien kämpfend, ist sie selber autoritär bis auf die Knochen. Vom historischen Wind durchs Leben gewirbelt, hält sie mit ihren Waffen dagegen, ihrer scharfen Intelligenz und ihrem Feuereifer für die Gerechtigkeit.
Aber damit zerfetzt sie nicht nur propagandistische Zeitungsartikel in der Luft, sie zerstört dadurch auch alle ihre Liebesbeziehungen und die familiären und nachbarschaftlichen Beziehungen gleich mit. „Okay, du bist von Feinden umgeben, aber du hast Hausschuhe“, versucht Cicero, ihr einziger dankbare Schüler, sie am Ende ihres Lebens zu besänftigen. Eingestehen kann sie freilich nicht, dass es ihrem Leben ganz gut getan hätte, sich gelegentlich an ihren Hausschuhen statt immer nur an ihren Feinden zu erfreuen.
Verliebt in diese Figuren
Rose ist eine Mutter, die man nur verlassen kann, eine Nachbarin, der man auf keinen Fall begegnen will, eine Freundin, vor der man Angst hat, und trotzdem: Man möchte sie beim Lesen dieses Romans schütteln und dann ganz fest umarmen, auf dass sie die Milde und Liebe, die sie tief in sich begraben hat, freigibt. Man wird diese Rose nämlich nicht mehr so schnell los. Denn es ist nicht der Plot, der den Rausch beim Lethem-Lesen erzeugt.
Es sind seine fantastisch erfindungsreichen Sprachbilder und seine verwinkelte Choreografie, mit der jeder Winkel seines Personals so begierig ausgeleuchtet wird, dass man sich in diese Personen verliebt, obwohl die es eigentlich gar nicht zulassen, dass man sie überhaupt nur sympathisch findet.
Sergius wird die Wahrheit über Rose und seine Mutter nicht erfahren. Denn immer ist es eine Verkettung von Zufällen, impulsiven Handlungen und emotional verschachtelten Entscheidungen, die dazu führen, dass letztlich alle Figuren in diesem Roman allein bleiben, Rose im Altersheim in Queens, Sergius im Quäkerinternat in der Provinz Pennsylvanias.
„Ich habe schon, als ich zum ersten Mal im Kino war, gelernt, dass man immer nur Schleier um Schleier lüften kann, um der Wahrheit näher zu kommen. Es lief ’Yellow Submarine‘. Die wahren Beatles sah ich hier nicht, nur Zeichentrickfiguren.
Jeder revolutionäre Versuch scheitert
Also hörte ich die Platten und entdeckte, dass die wahren Beatles, die aus den frühen 60er Jahren waren. Meine Mutter aber hielt die Beatles nach ’Sgt. Pepper‘ für die wahren. Die wahren Beatles haben wir beide natürlich nie kennengelernt“, erzählt Jonathan Lethem lachend auf dem Sofa in Wannsee.
Es gibt sie also nicht, die Wahrheit hinter der Geschichte, die Wahrheit hinter dem Charakter. Wie auch? Dass jeder revolutionäre Versuch scheitert, so wie jedes Vorhaben, die Vergangenheit loszuwerden und alles ganz anders als die Eltern zu machen, ist immer einer Verkettung von Ereignissen und Entscheidungen geschuldet, die man selbst nicht gewählt hat.
Das Einzige, was man selbst entscheiden kann, so könnte die Botschaft des Romans lauten, ist der Widerwille gegen die Desillusionierung, das „selbstgewählte Nein!“, wie es im Roman heißt. So wie beim Zeitpiloten Sergius, der das Videospiel einfach nach seinen Regeln spielt. Auch wenn es keine Auswirkungen auf die Geschichte hat.
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