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Neuer Roman von Jochen SchimmangTrümmer, Leute, nichts als Trümmer!

Im Schlaf sucht der Held nach der verlorenen Zeit der Bonner Republik. Jochen Schimmangs neuer Roman „Laborschläfer“ ist voller Erinnerungen.

Woran erinnert man sich beim Aufwachen? Foto: Stefanie Loos

Preisfrage: Wer erinnert sich noch an Toast Mozart? Rumpsteak mit Champignons und Kräuterbutter auf einer Scheibe Toast, das war vor der Wiedervereinigung ein Klassiker in westdeutschen Speisewägen.

Einer, der sich nur allzu gut an Toast Mozart erinnert, ist Rainer Roloff, der Ich-Erzähler in Jochen Schimmangs neuem Roman „Laborschläfer“. Für ihn ist „die bürgerliche Ausgabe eines Hamburgers“ in unserer pandemischen Gegenwart so etwas wie Marcel Prousts in Tee getunkte Madeleine, ein kulinarischer Schlüssel zur Vergangenheit, zumal zu jenem „dämmrig-schwarzweißgrauen Jahrzehnt“ der 1970er Jahre.

Nicht, dass der rüstige Mittsiebziger einen solchen Schlüssel nötig hätte. Über Altersdemenz kann sich Schimmangs Held nicht beklagen, im Gegenteil, in ihm wuseln die „Erinnerungen wie Ratten“. Und wenn es stimmt, was Niklas Luhmann in schöner Paradoxie behauptet hat, dass die wichtigste Funktion des Gedächtnisses das Vergessen sei, so hat jemand mit einem Elefantengedächtnis wie der Ich-Erzähler ein Problem. Denn in seinem Kopf türmen sich die Erinnerungen wie jene Trümmerberge, auf denen Roloff einst als Kind im zerbombten Nachkriegsköln spielte und die alles, aber keine kohärente Biografie ergeben.

Zu seinem Glück hat Schimmangs Held noch eine zweite Eigenschaft, nämlich einen ausgezeichneten Schlaf. Beides zusammen macht ihn zum perfekten Kandidaten für eine Langzeitstudie in einem Düsseldorfer Schlaflabor, in dem sich Roloff alle paar Wochen für ein, zwei Nächte an diverse Überwachungsgeräte anschließen lässt.

Der Roman

Jochen Schimmang: „Labor­schläfer“. Edition Nautilus, Hamburg 2022. 328 Seiten, 24 Euro

Was ihm übrigens großes Vergnügen bereitet, und zwar nicht nur, weil er in Sachen Schlafforschung längst ein „alter Hase“ geworden ist, sondern auch wegen des netten Personals, etwa der aufregenden Frau Hoss, deren abendliches Hantieren an Roloffs Anschlüssen ihm prompt eine überraschende Erektion beschert, Anlass für einen selbstironischen Schlenker („Schäm dich, alter weißer Mann, sage ich zu mir“).

„Schlimme Sachen“ im Osten

Bei besagter Studie geht es um den Zusammenhang von individueller und kollektiver Erinnerung, wie der Laborchef Dr. Meissner seinem Lieblingsprobanden erklärt, und zwar „in den ersten zwanzig Minuten nach dem Aufwachen … Also in der Zeit des Übergangs, wenn man in beiden Wirklichkeiten zugleich ist.“

Was Roloff Dr. Meissner präsentiert, sind, wie gesagt, Erinnerungsbruchstücke, nach dem Motto „Trümmer, Leute, nichts als Trümmer!“. Wie die Erinnerung an den Fall Barschel, als die Bundesrepublik in Sachen Skandal endlich Weltniveau erreichte, so Roloff. Oder an die verstörende Verhaftung eines Untermieters seiner Eltern durch die Alliierten, der „schlimme Sachen“ im Osten gemacht haben soll, was den Ich-Erzähler früh der Welt der Erwachsenen zu misstrauen lehrte. Oder an seine frühe Liebe Lotte, eine Kommilitonin, die später im Berlin der Achtziger als Künstlerin reüssierte, aber mit der neuen Hauptstadt voller Baugruben fremdelte.

Dass Dr. Meissner, der Schlafforscher mit dem unsteten Blick und dem rätselhaften Notizheft, im Lauf des Romans selbst mehr und mehr ins Dunkel gleitet, bis ihn seine Frau endlich unter den Blicken der erschütterten Kollegen und Probanden nach Hause geleiten muss, ist dabei von schöner Ironie. Vor allem aber ist Meissners fortschreitender Gedächtnisverlust einer der wenigen roten Fäden des Romans, der sich ansonsten eher ziellos mäandernd fortentwickelt.

Markenzeichen Melancholie

Was ausdrücklich keine Kritik sein soll. Wer diesen anspielungsreichen Roman liest, gewinnt schnell den Eindruck, dass er im Grunde ewig so weitergehen könnte, ja, sollte. Das liegt vor allem am Protagonisten: Rainer Roloff ist eine typische Schimmang’sche Aussteigerfigur, ein sympathisch-skurriler Kauz mit dem „Markenzeichen Melancholie“, ein ambitionsloser Lebenskünstler, der sich zeitlebens allen Erwartungen erfolgreich entzogen hat („ich habe immer ziemlich genau gewusst, was ich nicht wollte“), ganz nach dem Vorbild seiner literarischen Lieblingshelden Bartleby und Oblomow. Und der damit seinem verschwundenen Freund Georg Korff ähnelt, dem Protagonisten von Schimmangs Romanhauptwerk „Das Beste, was wir hatten“ (2009).

Auch der neue, wieder wunderbar erzählte Roman des 74-jährigen Autors bietet einen Rückblick auf die untergegangene Bonner Republik. Allerdings ist diesmal die Wehmut gemischt mit einer gehörigen Portion Ratlosigkeit. Durchaus zufrieden verweist Schimmangs Protagonist, der sich nach einem Soziologiestudium als selbsternannter Privatgelehrter mit Aushilfsjobs durchs Leben schlug, im Alter auf seine „gebrochene Erwerbsbiografie“.

Die „Aliens“ der Generation Y, die heute Dreißig- oder Vierzigjährigen, bekommt er von seiner peripheren Warte aus jedoch nicht recht in den Blick. Wie seine neue Nachbarin, die von ihrem Kater überforderte Pressefrau eines Kölner Verlags, die sich in einer herrlichen Szene über die notorische Undankbarkeit ihrer Au­to­r:in­nen beschwert.

Aus der Gesellschaft fallen

Umso wichtiger ist für Schimmangs Ich-Erzähler der Aufenthalt in Dr. Meissners Schlaflabor geworden. Die Vorstellung, es könnte geschlossen werden, etwa wegen des Corona-Lockdowns, beschert ihm Schweißausbrüche: „Nicht allein, dass mir mit ihm ein Stück Zuhause verlorengehen würde, ich würde, so empfinde ich es jetzt, praktisch meine letzte deutlich definierte Verbindung zur Gesellschaft verlieren, völlig unabhängig davon, ob es so etwas wie eine Gesellschaft noch gibt und wie sie genau aussieht. Ich würde endgültig aus ihr herausfallen.“

Zu seinem Glück entscheidet Dr. Meissner früh, die Forschung dürfe, Virus hin oder her, nicht stillstehen, „wir machen weiter“. Umso irritierender jedoch ist das weitgehende Desinteresse an der Pandemie in Schimmangs Roman, der Anfang 2020 beginnt und Mitte letzten Jahres endet. Sicher, dass er vom Taxifahrer plötzlich durch ein Plexiglas getrennt ist, ist Schimmangs Ich-Erzähler genauso eine Bemerkung wert wie eine Frau, die selbst im eigenen Treppenhaus Maske trägt.

Dass aber ein so scharfer Beobachter wie Rainer Roloff von der gesellschaftlichen Spaltung, die sich in dieser Zeit vollzieht, nichts mitbekommen soll oder will, wirkt wenig plausibel.

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