Neuer Roman von Ian McEwan: Die Klaviatur der Gefühle
Ian McEwan erzählt in „Lektionen“ vom Alltag und sexuellen Versuchungen. Dabei entwirft er ein großes europäisches Zeit- und Weltpanorama.
Roland Baines, der „Held“ des grandiosen neuen Romans von Ian McEwan, ist ein „Jedermann“. Der Figurentyp stammt aus dem englischen mystery play und ist durch das europäische Mönchsordenstheater ans 20. Jahrhundert überliefert worden, wo Hugo von Hofmannsthal diese frühneuzeitliche Erbschaft zu einem der größten Erfolgsstücke der Dramenliteratur bis heute umgearbeitet hat.
Die Intention der Jedermann-Figur ist seit ihren Ursprüngen allegorisch, also lehrhaft. „Lektionen“ ist deshalb auch der Titel von McEwans Roman. Wir sollen aus einem Lebenslauf etwas lernen.
Weswegen der geschilderte Mensch auch nicht ein besonders bedeutendes oder schreckensreiches Individuum sein darf, kein eindrücklicher Held, keine große Schurkin. Sondern einer oder eine wie du und ich. Das Rezeptionsziel heißt Identifikation. Wir alle, das ist die Botschaft McEwans, sind Roland Baines.
Everyman-Literatur
Im Mysterientheater oder bei Hofmannsthal steht Jedermann (und wir mit ihm) in der Mitte zwischen religiös konnotierten Polen: Versuchung durch Welt, Macht, Sex und Geld auf der einen Seite, der enge Pfad zum ewigen Heil auf der anderen. Es ist klar, welche Richtung uns in der traditionellen Everyman-Literatur nahegelegt wird.
Ian McEwan: „Lektionen“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2022, 720 Seiten, 32 Euro
In McEwans säkularisiertem mystery play sind die Versuchungen verfehlten Lebens weiblich besetzt. Der junge Roland Baines, den seine Eltern – ein britischer Berufssoldat auf Posten in Libyen und seine sanfte, unglückliche Ehefrau – in einem britischen Internat sozusagen abgestellt haben, fällt dort, 16-jährig, einer Klavierlehrerin zum Opfer, die von dem sehr jungen Mann erotisch besessen ist.
Sie kolonisiert seine sexuellen Fantasien, verführt ihn, ruiniert seine Schulkarriere und verfolgt den haarsträubenden Plan, ihn in Schottland zu heiraten und ihn einerseits als Sexualpartner, andererseits als ihren begabtesten Schüler (eine professionelle Laufbahn als Pianist stand ihm eine Weile lang offen) für immer bei sich zu behalten.
Reisen, Drogen und Affären
Sie verheißt ihm Sex und Ruhm. Aber er würde die Freiheit verlieren, ihre Fröste und ihre Möglichkeiten für Triumph und Desaster zugleich. Der Junge flüchtet, schmeißt die Schulausbildung und führt – auf langen Reisen, auf Drogentrips, mit Affären – das Hippieleben, das 20-Jährigen in den sechziger Jahren offenstand, ihnen aber zwischen 30 und 40 als Sackgasse bewusst werden konnte, in der viele von ihnen zugrunde gegangen sind.
Der Missbrauch hat Spätfolgen: Roland kann Beziehungen nicht fest- und aufrechterhalten. Er lernt in London Alissa kennen, eine Deutschengländerin, deren Vater mit der Widerstandsgruppe der Weißen Rose in entfernterer Beziehung stand.
Hier beginn der „deutsche“ Strang des Romans, dessen mäandernder Erzählfluss durch das letzte Jahrhundert – und bis in unseres hinein – auch die untergegangene DDR umfließt, wo Roland vor 1989 Freunde hat, außerdem den Mauerfall, die Regierungszeiten Margaret Thatchers und Angela Merkels bis zum Brexit und den Lockdowns der frühen zwanziger Jahre: ein europäisches Zeit- und Weltpanorama.
Bedeutendste Schriftstellerin ihrer Zeit
Alissa jedoch fällt ihrerseits einer Verlockung zum Opfer. Es ist diejenige des künstlerischen Ruhms, die Roland durch den sexuellen Missbrauch verunmöglicht worden war. Sie verlässt nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes die kleine Familie und wird die bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin ihrer Zeit.
Roland sieht sie noch einmal am Tag des Mauerfalls kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütromans, der sofort ein Welterfolg wird, und ein definitives Buch der deutschen Literaturgeschichte. Und ein zweites Mal: Er besucht die vereinsamte alte Frau, die in einem Allerweltsort bei München auf den Krebstod wartet.
Sie hat ihrer Kunst das Opfer des Lebensglücks gebracht. Der Zurückgelassene aber erzieht das Kind in einem heruntergekommenen Reihenhaus in Südlondon, verdient sein Geld als Barpianist und findet ein spätes Ehe- und Familienglück mit Daphne, die er heiratet, bevor sie an Krebs stirbt.
Lieblingsenkelin Stefanie
Sein Alter verbringt er inmitten der Bücher, am Klavier, zwischen Besuchen von Familie und Freunden und in der Erinnerung an ein früh zerbrochenes, aber leidlich wieder zusammengesetztes Leben. Die letzte Szene des Romans zeigt den alten Mann im Kreis seiner großen Familie mit seiner Lieblingsenkelin Stefanie.
Im Gespräch mit dem Kind gibt er sich der Fantasie hin, das 21. Jahrhundert sei ein Buch, das er nicht mehr lesen wird, aber zu gern wüsste, wie es ausgeht. Ich werde es lesen, sagt Stefanie. Dann sage ich dir, ob es ein gutes Ende genommen hat. Und sie führt den ein bisschen unsicher gehenden alten Mann an der Hand ins Esszimmer hinüber, denn ihre Mutter hat zum Abendessen gerufen.
Ian McEwans Buch kann einen über Monate begleiten. Die fein ausziselierten Zentralgestalten im Kreis tolstoihaft zahlreicher Nebenfiguren, die überzeugende soziologische Feinmalerei britischer und deutscher Geschichte, kriminalistische, politische und geistesgeschichtliche Nebenhandlungen: „Lektionen“ ist ein Beweis dafür, dass das Große Erzählen in der Tradition des 19. Jahrhunderts auch im 21. möglich ist und plausibel sein kann.
Es ist schwer, während der Lektüre nicht an die Literaturkritik-Diskussion zu denken, die Moritz Baßlers Buch über den „Populären Realismus“ ausgelöst hat. Legt man das mit diesem Begriff gemeinte Konzept neben McEwans Roman, wird sein Werk erkennbar als ein spektakulär gelungenes Exemplar der von Baßler definierten Literaturrichtung.
McEwan vermeidet das Leser-Autorinnen-Einverständnis, dessen vorschnelle Herstellung diese Art von Bücher allzu oft in die Banalität führt. Sein Erzählen bleibt offen, beeindruckbar durch alles, was es berührt, in dichtem Kontakt mit der Wirklichkeit: realistisch. Nirgends wird moralisiert – auch nicht in der wirklich abgründigen Schilderung der Verführung des Minderjährigen, bei der Beschreibung einer Straftat also.
Empörung, für die besonders bei der Schilderung der beiden weiblichen Hauptfiguren viel Anlass besteht, wird konsequent unterlaufen durch die feinkörnige, an Nabokov oder Thomas Mann erinnernde Auflösung auch der fragwürdigen und sogar der bösen Motive. Auch die Teufelinnen in diesem mystery play sind, wenn wir genau genug hinschauen, wie wir – Jedermann und Jedefrau.
McEwans Roman ist etwas, woran man schon gar nicht mehr glauben mochte: in einem emphatisch traditionellen Sinn große Literatur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid