Neuer Roman von Frank Schulz: Was sich im Unterholz bewegt
Die Romane um den schluffigen Gelegenheitsdetektiv Onno Viets werden immer noch unterschätzt. Diesmal: „Onno Viets und der weiße Hirsch“.
Am Anfang ist es wie immer bei Frank Schulz ein bisschen nervig. Die Sätze kommen verquast daher, alles wirkt etwas umständlich, ja unbeholfen. Und dann dieses Familienfest mit den vielen Namen: Wie soll man sich da durchfinden? Warum muss diese ausladende Büfett ganze zwei Seiten lang beschrieben werden? Und weshalb, Herrgott noch mal, muss jedes Geräusch eines Rentners, das er mit seinem offensichtlich schlecht sitzenden Gebiss fabriziert, so minutiös nachgezeichnet werden, dass man das Gefühl hat, man stünde ihm direkt gegenüber?
Aber irgendwann, da macht Onno Viets einfach mal wieder „Nech?“ Und da fällt es einem wieder ein. Denn dieses Buch, das dritte und angeblich letzte des viel geliebten Hamburger Autors Frank Schulz, das von seiner Figur Onno Viets handelt, ist natürlich wie die anderen auch: „Onno Viets und der weiße Hirsch“ funktioniert ganz genauso wie sein Held.
Im ersten Moment denkt man: Warum soll ich diesem Zausel 350 Seiten lang folgen? Und im zweiten Moment hat man sich zum dritten Mal in Onno Viets verliebt, in einen Mann Mitte fünfzig auf Hartz IV, der zu nichts zu gebrauchen, der „quasi in den Weiten der Ebene steckengeblieben ist“, wie Frank Schulz es formuliert – ein Totalversager, ein Nichtsnutz.
Ein Mann, der im Bett Leibchen, also abgeschnittene T-Shirts trägt, um unter der Decke nicht zu schwitzen und oben rum, wo man sich nicht zudecken kann, nicht zu frieren.
Frank Schulz: "Onno Viets und der weiße Hirsch". Galiani Verlag, Berlin 2016, 358 Seiten, 19,99 Euro
Sitzen, zuhören, Tischtennis
Ein Mann, der nur drei Sachen gut kann: sitzen, zuhören, Tischtennis spielen. Und zwar in Noppensocken. Ein Mann, von dem man nichts hat, wenn man mit ihm befreundet ist. Den man nur um seiner selbst willen lieben kann.
Und plötzlich hat man die Zähigkeit des Einstiegs vergessen, das Buch ist zu Ende und man ist vom Donner gerührt, wie Frank Schulz es wieder einmal geschafft hat, ein zutiefst groteskes Buch zu schreiben, das manche ausschließlich brachialhumoristisch oder auch kalauernd nennen würden, das aber dennoch – oder nein – gerade deswegen von ganz großen Themen handelt, von Menschenliebe, von Herzensbildung. Und vor allem vom Krieg, der nie zu Ende gegangen ist, weder für jene, die ihn noch erlebten, noch für deren Kinder – und auch nicht für deren Enkel. Wie das geht? Ganz einfach scheinbar:
Onno Viets leidet noch immer unter der posttraumatischen Belastungsstörung, die der aufmerksame Leser der ersten beiden Onno-Bücher noch erinnern wird, von dem der Neueinsteiger ins Universum des Onno Viets aber nichts wissen muss. Diesmal lässt Onno, der sich selbst zum Privatdetektiv ernannt hat, aber nicht zu einem neuen Fall verdonnern. Sondern er zieht sich zu seinen Schwiegereltern zurück, mit denen er sich nicht ohne Grund besser versteht als mit den eigenen Eltern.
Diese Schwiegereltern leben nicht nur in einem Dorfidyll, sie leben auch in einem Familienidyll, lieben einander, lieben ihre Töchter, die wiederum sie lieben, „tief und bombenfest verwurzelt“, wie es einmal ganz am Anfang heißt. Vor allem Schwiegervater Henry, ein Amtsförster a. D., der seinen Seelenfrieden nach wie vor am ehesten auf der Jagd findet, ist eine faszinierende Figur – nicht nur für Onno, sondern auch für den Leser.
Arbeitsscheues Gesindel
Auf der einen Seite scheut Henry kaum davor zurück, auf alles loszuballern, was sich im Unterholz bewegt, und empfindet großes Vergnügen dabei, erlegte Hirsche „aufzubrechen“, wie der Waidmann zu sagen pflegt. Henry flucht über „arbeitsscheues Gesindel“, hat sich aber aus purer Liebe angewöhnt, „die biographischen Brüche und sonderbaren beruflichen Entscheidungen des Schwiegersohns einfach rückhaltlos gutzuheißen“. Und so, aber das nur nebenbei, ist Frank Schulz’ Buch auch ein total tolles, schillerndes Hohelied auf ein vordergründig blasses, kleinbürgerliches Milieu, bei dem sich kaum ein deutscher Autor die Mühe macht, so genau hinzusehen wie Frank Schulz.
Jedenfalls kommt es, wie es kommen muss: Onno wird auch hier, im selbst gewählten Exil, in alte Streitereien und lang Verdrängtes verwickelt, sein Trauma wird gelinde gesagt eher vertieft, als dass es heilen könnte. Da ist zum einen der skurrile Überrest einer Kommune, die einst im Dorf zum Schrecken der meisten Bewohner hauste: eine absurd dicke Katzenliebhaberin, die viel Geld mit esoterischen Wochenendseminaren verdient.
Da ist zum anderen ein Familienmitglied der Försterfamilie, das gleich zu Anfang als „Nelkenheini“ eingeführt wird – ein klassisches schwarzes Schaf, wie es einem großen amerikanischen Roman entsprungen sein könnte, ein Schaf, das der Familie all die Altlasten vorführt, die sie so gern wegschieben würde. Dieses schwarze Schaf ist überpräsent, es ist der Motor des Buches, und das, obwohl es vor Jahrzehnten Abschied genommen hat und seither mehr oder weniger spurlos verschwunden ist.
Aber über diesen Strang der Story darf man eigentlich nicht viel verraten, wenn man nicht den Witz des ganzen Buches ausplaudern will. Nur so viel: Henry hat Schlimmes erlebt während des Zweiten Weltkriegs, und er hat es nie verarbeitet. Fassungslos muss er dabei zusehen, wie ihm das schwarze Schaf, das er übrigens sehr liebt, entgleitet und sich damit der Kontrollverlust wiederholt, den er im Krieg kennenlernen musste.
Schwarzes Schaf der Familie
Irgendwann einmal erinnert sich irgendwer an eine Szene, als das schwarze Schaf noch ein Kind ist. Es befragt seine Mutter nach dem Krieg, und die Mutter erzählt von ausgebombten Häusern. Als es anderntags eine Puppenstube sieht, in die man von außen genauso hineinsehen kann wie in Häuser, deren Fassade weggebombt wurde, ruft es erschrocken: „Guck mal, Mami, der Krieg ist doch noch nicht vorbei!“
Es ist das Groteske und die weiche, liebenswerte, harmlose Kontrastfigur Onno Viets, die dieses Buch am Ende umso grauenhafter macht. Es ist, als würde der Schrecken durch den Humor von Schulz erst greifbar.
Das ist groß.
Und es ist schade, dass es damit, also mit diesem Onno Viets, nun tatsächlich vorbei sein soll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen