Neuer Radiosender für Senior*innen: Viel mehr als ein Nebenhermedium
Ulrich Burow aus Grünheide hat einen Radiosender gegründet. Für Radio Ginseng arbeiten nur ehrenamtliche Senior*innen – und erleben Gemeinschaft.
Um herauszufinden, wie sein Sender mal klingen soll, musste Ulrich Burow erst mal genau hinschauen. „Es ist wichtig, dass du es mit eigenen Augen siehst“, hatte Tony Smith ihm am Telefon gesagt. Der Brite ist Erfinder des Angel Radios, eines Radiosenders, für den ausschließlich Senior*innen arbeiten – vor dem Mikro, in der Technik, als Musikredakteur*innen. Burow folgte Smiths Einladung, flog für eine Woche nach Southampton und sah zu, wie eine Person nach der anderen ihren Rollator über die Türschwelle der Redaktion schob.
„Da herrschte so eine tolle dynamische Atmosphäre, so familiär“, sagt Burow. Nach seinem Kurzvolontariat kehrte er nach Grünheide zurück und machte sich auf die Suche nach Räumlichkeiten, Equipment und Mitstreiter*innen. Nun, drei Jahre später, geht Radio Ginseng an den Start. Nach britischem Vorbild.
Eigentlich ist Ulrich Burow eher ein visueller Typ. Als junger Mann arbeitete er erst als Fotojournalist, später wird er Dozent im Bereich Theater- und Medienwissenschaften. Aber Radio fasziniert ihn, besonders heute, in dieser Zeit, in der Medienkonsum immer individualisierter wird, in der Algorithmen die optimale Spotify-Playlist ausspucken und man sich das Fernsehprogramm selbst zusammenstellen kann.
„Radio konterkariert meiner Meinung nach den Stress, dem viele Menschen ausgesetzt sind, weil sie so reizüberflutet sind“, sagt er. Seinen Sender benennt er nach Ginseng, einer Heilpflanze, die die Synapsen anregt. Denn Radio sei viel mehr als ein Nebenhermedium. Besonders, wenn man es selbst macht: Burow lädt in Grünheide zu einem Infoabend für sein Projekt ein, verteilt Flyer, baut eine Webseite.
Mutterkraut und The Who
Menschen wie Dorothea Kiesecker oder Erick Eckenstaler melden sich bei ihm. Die 77-Jährige war früher Kinderkrankenschwester, in ihrer Sendung bei Radio Ginseng soll es um die Themen Garten, Umwelt und Nachhaltigkeit gehen. Aktuell plant sie erste Themenblöcke zu Besonderheiten im Anbau des Gravensteiner Apfels, der Kraft von Mutterkraut und wie richtiges Kompostieren gelingt.
Erick Eckenstaler ist gerade erst Pensionär und jetzt Musikchef der Redaktion. Seit Tagen digitalisiert er den Fundus eines ehemaligen Berliner DJs, der ihnen die CDs umsonst zur Verfügung gestellt hat. Eckenstaler will ältere Menschen mit seiner Musikauswahl an ihre Jugend erinnern, aber auch Horizonte erweitern: Von The Who bis zur mongolischen Rockband The Hu.
„Interview im Ohrensessel“
Sitz der Redaktion ist im Keller des Robert-Havemann-Hauses, „wobei Keller nicht ganz richtig ist, im Souterrain sind wir“, sagt Ulrich Burow über Facetime. Die Zimmer haben bodentiefe Fenster, wirken hell und frisch. Monatelang habe das Team daran gearbeitet, aus den leeren Räumen ein gemütliches Hauptquartier entstehen zu lassen, sagt Burow. Ohnehin eine fordernde Angelegenheit, Abstand und Maske machten es nicht leichter. Die Technik hat ihnen die Medienanstalt Berlin-Brandenburg zur Verfügung gestellt. Ulrich Burow reichte sein Projekt bei einer Ausschreibung ein und gewann.
Für das Format „Interview im Ohrensessel“ hat sich die Redaktion zwei Ohrensessel angeschafft. Darin sollen für längere Talks regelmäßig interessante Persönlichkeiten aus der Region Platz nehmen. Auch die Zuhörer*innenschaft wird sich an dem Programm beteiligen dürfen, kann On Air Musikwünsche abgeben oder in Themensendungen mit Moderator oder Moderatorin über Persönliches sprechen.
Wie eine Wohngemeinschaft
Radio Ginseng plant auch „Intergeneratives“, also Inhalte, die den Austausch von Jung und Alt fördern. „Es ist doch wichtig, dass Generationen miteinander klarkommen und voneinander wissen“, sagt Burow. „Der Fundus an Lebenserfahrung, der sich hier angesammelt hat, muss doch weitergegeben werden. Niemand braucht das Rad zum zweiten Mal zu erfinden.“ Radio Ginseng läuft erst mal nur im Internet, täglich von 10 bis 18 Uhr. Ziel ist natürlich die eigene UKW-Frequenz, allerdings brauche es dafür ein sehr viel dichteres Programm und eine wachsende Redaktion.
„Und wachsen wollen wir, unbedingt. Jeder, der den Zeitaufwand nicht scheut, Neues lernen möchte und auf dem Boden des Grundgesetzes steht, kann mit uns Kontakt aufnehmen.“ Dorothea Kiesecker hat Ulrich Burow neulich gesagt, dass sich Radio Ginseng für sie schon wie eine Wohngemeinschaft anfühle. „Spannend, dachte ich dann“, sagt Burow. „Genau das haben die Menschen in Southampton auch gesagt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen