Dem Fluch entkommen sie nie

Großer Spaß trotz tragischen Themas und vieler Horrorelemente: Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos macht seinen hybriden Thriller „The Killing of a Sacred Deer“ dank ironischer Überhöhung zum originellen Ausnahmefilm

Theaterhafte Sprechakte und raffinierte Kameraführung prägen die Inszenierung: Nicole Kidman und Colin Farrell Foto: Alamode

Von Barbara Schweizerhof

Wie soll man den zweifellos großen Charme der Filme des Griechen Yorgos Lanthimos beschreiben? Vielleicht am besten so: Es ist, als ob man sich in eine Art Folterkeller hat locken lassen, wo dann die Tür hinter einem zuschlägt. Da steht man nun, erschreckt und fasziniert zugleich, und fragt sich: Was geht hier vor?

In seinem Film „Lobster“, seiner ersten englischsprachigen Produktion mit internationalem Ensemble, versetzte Lanthimos den Zuschauer in eine Welt, die äußerlich ununterscheidbar von unserer Gegenwart war, in der aber völlig andere gesellschaftliche Zwänge herrschten. Colin Farrell spielte darin einen weinerlichen Mann, der gerade von seiner Frau verlassen worden war.

Bizarrerien gegen den Plot

Es stellte sich heraus, dass ihm eine Gnadenfrist von 45 Tagen blieb, um eine neue Partnerin zu finden, andernfalls würde er in ein Tier seiner Wahl verwandelt werden. Farrells schnauzbärtiger David entscheidet sich für den Lobster (Hummer), weil sie lange leben und er das Meer mag. Aber statt im Meer landet David dann bei den Partisanen im Wald, wo wiederum das Single-Sein Gebot ist, er sich aber in Rachel Weiszverliebt.

Wobei diese grobe Plot-Angabe den vielen Bizarrerien nicht gerecht wird, die den Reiz des Films ausmachten. Da schlug sich ein verzweifelter Mann heimlich die Nase blutig, um Gemeinsamkeiten mit einer aus der Nase blutenden Frau zu demonstrieren, andere stachen sich gar die Augen aus, wie überhaupt Grausamkeit und Gleichgültigkeit als wichtige Kriterien der Beziehungsfähigkeit offenbart wurden.

Anders gesagt: „Lobster“ war eine fesselnde Mischung aus Moritat und Parabel, ­Science-Fiction und Farce. Aber das wirklich Faszinierende daran war, mit welchen einfachen Mitteln Lanthimos diese dystopische Welt erschuf: ganz ohne teure Spezialeffekte, durch reine Dramaturgie und altmodische Kinotechniken wie Bild­kadrierung, Schnittrhythmus und Schauspielerführung.

Colin Farrell ist nun auch in Lanthimos’ neuem Film „The Killing of a Sacred Deer“ wieder dabei, und wieder fällt er als Erstes durch seine Kinnfrisur auf. Diesmal ist es ein prächtiger Vollbart, der sein Gesicht fast völlig verdeckt und seinen Sätzen etwas Mysteriöses verleiht, weil man den Ort ihrer Artikulation nicht wirklich sieht.

Passend dazu geht es im ersten Gespräch um die Frage der Wasserbeständigkeit von Armbanduhren. Zwei Männer in Weißkitteln, Farrell und Bill Camp, laufen einen Krankenhausflur entlang und unterhalten sich über ihren Armschmuck, wie tief man damit tauchen könnte. Wobei „unterhalten“ nicht ganz das richtige Wort ist: Farrell und Camp sprechen ihre Sätze mit einer irritierenden Flachheit, die im harten Kontrast steht zum melodramatischen Element ihrer Lebensretterumgebung.

Farrell verkörpert den Herzchirurgen Steven, der mit Nicole Kidmans Augenärztin Anna verheiratet ist. Sie haben zwei Kinder zusammen, die pubertierende Tochter Kim (Raffey Cassidy) und den kleineren Bob (Sunny Suljic). Ihr betont artiger und von Ritualen geprägter familiärer Alltag – als Vorspiel zum Sex drapiert sich Anna in der Pose „Vollnarkose“ übers Bett – erinnert ein wenig an den der Familie aus „Dogtooth“, mit dem Lanthimos 2009 seinen internationalen Durchbruch erreichte. Was dort zunächst nach „ganz normaler Familie“ aussah, entpuppte sich als gewaltgeprägte Umdeutung aller Erziehungswerte unter Isolationsbedingungen. Doch in „Killing of a Sacred Deer“ kommt der Schrecken tatsächlich von außen und hat die Gestalt von Barry Keoghan.

Keoghan, der mit seiner einmaligen wechselhaft-zappeligen Präsenz bereits in Christopher Nolans „Dunkirk“ das Unglück förmlich herbeirief, ist eine der großen Entdeckungen dieses Filmjahres 2017. Bei Lan­thi­mos spielt er den jungen Halbwaisen Martin, dessen Vater, so erfährt man nach und nach, eine von Farrells Herzchirurg durchgeführte Operation nicht überlebte.

Sein Auftreten, so freundlich und demütig er zunächst auch daherkommt, provoziert Unbehagen, gerade weil man seine Absichten nicht durchschaut. Er erscheint weich, ohne Haltung und doch wie jemand, den man nie wieder loswird. Die Treffen zwischen ihm und Steven, hinter denen man zunächst eine illegitime Affäre vermutete, stellen sich als schwierige Schuldverhandlungen heraus, in denen das vermeintliche Opfer schließlich sein Urteil verkündet: Steven soll eines seiner Kinder oder seine Frau umbringen, andernfalls sterben alle.

Der kleine Bob ist schon erkrankt und kann nicht mehr laufen; wenig später sind auch Kims Beine wie gelähmt. Als beider Zustand sich mehr und mehr verschlechtert, sinniert die Mutter Anna, dass es wohl am logischsten wäre, eines der Kinder umzubringen, weil sie und Steven schließlich noch jung genug seien, ein anderes haben zu können. Steven sucht unterdessen andere Auswege. Doch dem Schicksalsspruch kann nicht entronnen werden.

Wie ein antikes Drama

Das Urteil Martins: Steven soll eines seiner Kinder oder seine Frau umbringen, andernfalls sterben alle

Der geradlinigen Ausweglosigkeit der an ein antikes Drama erinnernden Handlung steht die Ablenkung durch Lanthimos’ Lust am Launenhaften und Grotesken entgegen. In einer Szene wird Colin Farrells Achsel- und Brustbehaarung unter die Lupe genommen, weil Martin in seiner Übergriffigkeit vergleichen will, wer von ihnen „bewachsener“ ist. Bill Camp hat als il­loyaler Anästhesist seine Momente („Schuld am Ausgang einer Operation hat immer der Chirurg, nie der Anästhesist!“).

An anderer Stelle taucht Alicia Silverstone als Martins Mutter auf und will Steven verführen. Nie hat ein Satz wie: „Ich lasse Sie nicht gehen, bevor Sie nicht meine Torte probiert haben!“, bedrohlicher geklungen. Und das, obwohl sämtliche Figuren ihre Dialogzeilen in einer bemühten Monotonie von sich geben, die das Einfühlen in die Figuren fast unmöglich macht.

Das Theaterhafte ihrer Sprechakte bietet wiederum einen schönen Kontrast zum Raffinement der Kameraführung und des Bildschnitts: Oft sind die Räume wie aus dem spitzen Winkel heraus gefilmt, während die Nahaufnahmen die Gesichter meist an den Rand drängen. Der Film evoziert eine Stimmung von Klaustrophobie und Thriller, in der die nächste Schreckenswendung stets als logische Folge des Vorausgegangenen erscheint, so absurd die „Regel“ dahinter auch sein mag.

Man könnte meinen, dass damit Lanthimos’ Erfolgsrezept offenbart wäre: ein antikes Drama, etwa „Iphigenie“, in Gestalt eines modernen Thrillers zu verkleiden und bis zum bitteren Ende durchzuspielen. Aber wie schon in seinen Vorläuferfilmen überdauert auch in diesem die Aura des Mysteriösen und des Terrors noch den schlauesten Ansatz der Entschlüsselung.

Wobei der größte „Witz“ des Films darin besteht, dass es trotz des tragischen Themas und trotz aller Horrorelemente fast irritierend großen Spaß macht, sich in dieser Welt aufzuhalten. Zum einen, weil Lanthimos das Gemachte, Fiktive seiner Schöpfung mit ironischer Überhöhung immer wieder ausstellt. Zum anderen, weil er den Schauspielern etwas anderes als das sonst Übliche abverlangt, weshalb man an ihnen, wie hier noch einmal das Beispiel Colin Farrell zeigt, tatsächlich ungesehene Seiten entdecken kann. Und zum Dritten, vielleicht noch wichtiger, weil Lanthimos im stark vom Ideenrecycling geprägten Kino der Gegenwart mit der Originalität seines künstlerischen Gesamtentwurfs schlicht herausragt.

„The Killing of a Sacred Deer“.Regie: Yorgos Lanthimos. Mit Nicole Kidman, Colin Farrell u. a. Irland/Großbritannien 2017, 121 Min.