Neuer Film von Ken Loach: Glamour des Überlebens
Ken Loachs Herz schlägt auch weiterhin für die Underdogs. In seinem jüngsten Film „Angels Share. Ein Schluck für die Engel“ geht es um Whisky.
„Was jetzt?“ Diese Frage taucht unenwegt in den Filmen von Ken Loach auf. „Was jetzt“, fragt sich der Vater aus „Raining Stones“, der für das Kommunionskleid seiner Tochter auf kriminelle Abwege gerät. „Was jetzt“, fragen sich die Arbeiter aus „Riff Raff“, die ohne Versicherung schwarz auf einer Baustelle arbeiten und jeden Tag um ihren Job bangen. „Was jetzt?“, fragt sich auch Maggie aus „Ladybird, Ladybird“, die sich gerade ein neues Leben mit einem neuen Freund aufgebaut hat, und dennoch nimmt ihr das Jugendamt ihre Kinder weg.
Viele Antworten, Spielräume oder Handlungsmöglichkeiten gibt es für Ken Loachs Helden und Heldinnen nicht. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Nicht anders ergeht es auch Robbie aus Ken Loachs neuem Film „Angels’ Share. Ein Schluck für die Engel“. An seiner Zwangslage lässt schon die erste Einstellung keinen Zweifel. Man sieht Robbies zerknirschtes Gesicht vor einem dunklen Hintergrund, während der Haftrichter auf ihn einredet.
Man erfährt, dass er schon öfters vor Gericht gestanden hat, dass nach einer brutalen Gewalttat nun die erste längere Haftstrafe droht. Man hört auch, dass Robbies Freundin hochschwanger ist, die Vaterschaft vielleicht eine Wendung in sein Leben bringen wird und der Richter bereit ist, zum allerletzten Mal Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Ein wenig erinnert die Szene an die Peanuts-Cartoons, in denen der Lehrer nur aus dem Off in einem strengen, aber unverständlichen Kauderwelsch auf Charlie Brown und seine Freunde einredet. Auch bei Loach scheinen die Sätze aus einer fernen fremden Welt zu kommen, die von Robbies kleinkriminellem Überlebensuniversum nicht viel weiß und dennoch über ihn richtet.
„Angels' Share. Ein Schluck für die Engel“. Regie: Ken Loach. Mit Paul Brannigan, Siobhan Reilly u.a. Großbritannien/Frankreich 2012, 101 Min.
Und während der Richter spricht, bleibt uns die Zeit, mit der Kamera sein Gesicht zu erkunden. Es ist eines jener Gesichter, die das britische Kino unentwegt auf die Leinwand holt, mit einer eigenwilligen, angeschlagenen, vom Alltag geprägten Ausdruckskraft: Es ist der Glamour des Überlebenswillens. Oder auch jene trotzige Energie, die stets bereit ist, sich auch über die widrigsten Umstände hinwegzusetzen.
Vehement und leidenschaftlich
Umso schöner, wenn ein Regisseur wie Ken Loach die dafür notwendige Rückendeckung liefert. Und zwar auch diesmal mit leidenschaftlicher Vehemenz. Schon seit Jahrzehnten versammelt der britische Filmemacher vor seiner Kamera Biografien wie die von Robbie und beweist, dass seine Überlebensarbeiter und -arbeiterinnen eine zweite Chance mehr als verdient haben.
Gleiches gilt auch für die anderen Gestalten, die sich noch zu Robbie gesellen werden. Da wären der begriffsstutzige Albert, die Kleptomanin Mo und der gute Kamerad Rhino. Sie alle werden vom Haftrichter zu Sozialarbeit verdonnert und bilden von nun an eine Notgemeinschaft. Und sie brauchen einander wirklich: Kaum ist Robbie wieder auf freiem Fuß, sieht er sich mit den Brüdern seiner Freundin Leonie konfrontiert, die ihn aus Glasgow rausprügeln wollen. Dringend braucht er Geld, um für sich und Leonie eine gemeinsame Wohnung zu finden.
So findig, wie die kuriose Truppe ihr Schicksal meistern wird, so findig inszeniert Ken Loch auch seinen fünfundzwanzigsten Kinofilm. Denn diesen waghalsigen Genremix muss man erst einmal hinbekommen: „Angels’ Share“ ist ein sozialdramatischer Krimi, der den Zuschauer mit auf eine Expedition in die schottische Whiskyherstellung nimmt. Der hierfür unverzichtbare Fremdenführer heißt Harry, ist ein passionierter Whiskytrinker und der Sozialarbeiter von Robbie und Co.
Von dem geduldigen Mann lernen wir, dass sich der Titel „Angels’ Share“ auf die zwei Prozent des schottischen Nationalgetränks bezieht, die sich durch die jahrelange Fasslagerung buchstäblich in Luft auflösen. Und wir lernen auch, dass manche dieser Whiskys ein Vermögen wert sind. Vier Sammlerflaschen der teuersten Sorte würden mehr als ausreichen, um dem Quartett eine solide Existenzgrundlage zu verschaffen. Ein minutiöser Plan wird ausgetüftelt, dessen Ausführung den Zuschauer den Atem anhalten lässt.
In diesem Film drückt man den Helden und Heldinnen nicht nur für eine bessere Zukunft die Daumen, sondern auch zum Gelingen eines waghalsigen Coups. Hut ab vor Ken Loach, der sich seit mehr als einem halben Jahrhundert an der britischen Wirklichkeit abarbeitet und sich dabei als Regisseur stets neu erfindet!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“