Neuer Dokumentarfilm von Ryan White: Die Kraft des sexpositiven Denkens
Die Doku „Fragen Sie Dr. Ruth“ von Ryan White stellt die Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer vor. Die 92-Jährige hat ein bewegtes, nie frigides Leben.
In der Stimme liegt eine Heiterkeit, der auch ein Akzent nichts anhaben kann. Auf die Frage eines Anrufers, ob Frauen in ihrem Leben wirklich nur über eine begrenzte Anzahl von Orgasmen verfügen, ruft „Dr. Ruth“ „God forbid!!“, und kichert. „That’s a rumour I’ve never heard of“, fährt sie fort – ohne das englische th, aber mit hartem deutschem r.
Dabei hat die Sexualtherapeutin und Soziologin Dr. Ruth Westheimer, die vor 92 Jahren in Frankfurt am Main als Karola Ruth Siegel geboren wurde, Monströses hinter sich. 1938 schickten ihre jüdischen Eltern sie mit einem Kindertransport in ein Schweizer Waisenhaus. Ruth blieb sieben Jahre dort, ihre Familie wurde von den Nazis umgebracht. Mit 17, nach dem Krieg, reiste Ruth nach Israel, legte ihren „zu deutsch“ klingenden ersten Vornamen ab, und entwickelte in den folgenden Jahren jene unfassbare, beeindruckende Resilienz, die ihr – eventuell – das Leben rettete.
In Ryan Whites Dokumentarfilm „Fragen Sie Dr. Ruth“ erzählt die 1,40 Meter große Protagonistin von ihrer Ausbildung als Scharfschützin für eine Untergrundorganisation; von einer schweren Verwundung, die sie fast einen Fuß kostete; von der ersten, der zweiten, der dritten, diesmal großen Liebe; von ihrer Zeit als alleinerziehende Mutter, dem Psychologie- und Soziologiestudium, ihrer Doktorarbeit über Abtreibung, der Arbeit am New York Hospital – und ihrem Eintritt ins Rampenlicht der Populärpsychologie: 1981 begann Westheimer, die New Yorker Radio-Call-in-Show „Sexually Speaking“ zu moderieren, später war sie auch landesweit zu hören. Und schüttelte das körperlich unsichere, Post-sexuelle-Revolutions- und Prä-Aids-Amerika damit kräftig durch.
„Fragen Sie Dr. Ruth“. Regie: Ryan White. USA 2018, 100 Min.
Vielleicht war es, neben dem Zungenschlag und ihrem Alter, gerade der leicht despektierliche, jedoch durchaus liebevoll gemeinte Spitzname „The happy munchkin of sex“, der das so prüde wie interessierte Publikum für sie einnahm. Die Emigrantin Westheimer, die sich von den bisherigen US-amerikanischen „Sexgurus“ wie dem Ehepaar Masters und Johnson oder dem Zoologen und Sexualforscher Kinsey durch ihren Witz, ihren Akzent und ihre absolute Autonomie unterschied, wirkt kompetent, aber nicht bedrohlich; zufrieden, aber nicht unkritisch. Ihrem hörbaren Lächeln gegenüber trauten sich Menschen, über (in den 80ern) tabuisierte Sexthemen zu sprechen.
Feminismus war ihr zu politisch
Vielleicht half auch ihre Entscheidung, lieber eine Stellung zu beschreiben, als eine zu beziehen: Sich als Feministin zu bezeichnen lehnt Westheimer im Film ab (sie lässt sich jedoch auf den Kompromiss „nichtradikale Feministin“ ein). Der Feminismus ist für Dr. Ruth, die sich unbeirrt für Gendergerechtigkeit, das Recht auf Abtreibung und einen inklusiven Umgang mit HIV und Aids einsetzte, zu politisch. Sie, die täglich Körperpolitik praktiziert, und den Begriff „frigide“ lautstark aus ihrem Wortschatz verbannt, will niemanden ausstoßen: Sexualität ist für sie ein humanistisches, kein politisches Thema.
Über das Westheimer noch immer leidenschaftlich gern redet (und schreibt). Meist Kolumnen und Bücher, dazu hält sie Vorträge, ist in Talkshows zu Gast, spielte in Filmen und Sitcoms, lässt sich von ihren Enkeln besuchen, gab die Inspiration für ein Brettspiel, macht Witze, und gluckst selbst darüber.
Whites formal unauffälliger, affirmativer, aber grundherzlicher Dokumentarfilm zeigt eine Frau, die gelernt hat, dass nur genießen kann, wer auch gelitten hat. Und deren Erklärung für den Erfolg ihrer Talkshow typisch ist: Die Leute hätten sie sonntagsabends auf der Rückfahrt von den Hamptons im Radio gehört. „Danach waren sie angenehm erregt!“, giggelt sie. Wahrscheinlich half die Kraft des sexpositiven Denkens.
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