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Neuer Comic von Liv StrömquistGegen individua­listisches Elend

Liv Strömquists Comic „Das Orakel spricht“ will uns von Selbstoptimierung erlösen. Es geht auch um Angst, die sich hinter Skincare-Routinen versteckt.

Nicht nur an den guten Ratschlägen von Influencern arbeitet sich Strömquist ab Comic: Avant Verlag

Viel Sport, nur gesunde Ernährung. Ins Dankbarkeitstagebuch eintragen, wovon das Leben gesegnet ist. Aber zuerst eine Gesichtsmassage, die das Lymphsystem anregt. Am Abend leidenschaftliche Küsse (gut fürs Immunsystem). Und laut lachen (gut gegen Stress). Einfach neue Belastbarkeit tanken.

Viele werden jetzt wissen, was gemeint ist. Die beige, makel- und leblose Bildwelt der Influencer, deren Predigten nicht Psalme zugrunde liegen, sondern Affiliate-Links und Provisionsgebühren. Die Propaganda der Selbstverknastung für ein langes, gesundes, stets leistungsbereites Leben. Denn nur aufs eigene Leben kann ja überhaupt eingewirkt werden; Finanzkrisen oder platzende Immobilienblasen hingegen: passieren, müssen wir akzeptieren.

Mit kulturkritischem Schritt führt Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist ihre Le­se­r*in­nen durchs Elend. Persönliches Fortkommen, Schönheit, Schmerzfreiheit, blendende Laune, scharf gezogene persönliche Grenzen zu anderen und Kontakt zum authentischen Ich – alles dreht sich um ein isoliertes Individuum.

Alles ist zur Hausaufgabe geworden, deren Erledigung je­de*r selbst zu verantworten hat. Wer sich schwer damit tut, findet sich von gut gemeintem Rat bedrängt. Der erste Schuss ist gratis, dann kommt die Paywall.

Das Buch

Liv Strömquist, „Das Orakel spricht“. Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant Verlag, Berlin 2024. 248 Seiten, 25 Euro

Buchvorstellung mit Liv Strömquist im Kino Colosseum in Berlin am 21. 11. (in englischer Sprache)

Sieben Influencer

Strömquist wird sich in ihrem siebten auf Deutsch erschienenen Buch sieben Influencern zuwenden, die ganz unterschiedliche Ratschläge für ein gutes Leben austeilen. Anfangs wirkt es, als käme sie damit etwas spät und formulierte lediglich eine Kritik, die einige schon oft genug gehört haben werden: Oh nein, der Strohmann steckt schon wieder im Worst-Case-Szenario fest!

Aber sie holt auf. Strömquist lässt Bilder der Welt bei Nacht folgen, eine komplexe, weite, geheimnisvolle Welt von Ruinen, Tieren und Müllbergen. Das hat fast Cliffhanger-Charakter.

Mit naivem Zeichenstil gestaltet Strömquist ihre Seiten. Oft wirken sie wie Plakate: klare Farben, klare Botschaft. Nachdem sie mit der Darstellung von Influencerkultur einen Einstieg gewählt hat, der sehr zugänglich für das Publikum ist, traut sie den Lesenden auch eine erste Diagnose über den individualistischen neoliberalen Lifestyle zu, in dem sie den Soziologen Zygmunt Bauman dazu holt und zitiert.

Ihn lässt sie erklären, was passiert, wenn sogar der Tod zu einem individuellen Ereignis wird, für das der Mensch selbst verantwortlich zeichnen soll. Wie zuvor schon bei Armut, Krankheit, Einsamkeit, Suchterkrankung oder einer schlaffen Gesichtshaut.

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Der Tod in Bügelfaltenhose

Ein älterer Mann mit Pfeife, weißem Haar und dunklem Anzug sitzt mit gekreuzten Beinen am Boden und spricht: „Den Tod zu bekämpfen ist sinnlos, aber die Todesursachen zu bekämpfen wird zum Sinn des Lebens.“ Bei solcher Intensität wird es bleiben. Und so kommen nach und nach Theodor W. Adorno, Eva Illouz, Sigmund Freud und der Tod selbst, als Gefängniswärter in Bügelfaltenhose, ins Bild.

Dem Medium Comic wird sie wie gewohnt nur teilweise gerecht. Aber das ist in Ordnung. Sie erzählt uns hier keine Held*in­nen­reise, sondern hält entgegen den Gewohnheiten einen aufklärerischen Vortrag. Da scheint es naheliegend, seitenweise ganz auf Figuren zu verzichten.

Als Comicmacherin lässt es Strömquist aber immer dann krachen, wenn Fäden zusammengesponnen werden und auf harte Erkenntnis ein entlastendes Lachen folgt. Auf Zygmunt Baumans Diagnose entwirft sie eine Szene auf dem Friedhof. Ein sportlicher Typ zeigt auf eine Grabstele und sagt: „Diese Person starb an einem Herzkranzgefäßleiden, das sich vermeiden lässt, indem man sich keine Butter mehr aufs Brot schmiert.“

Zudem schöpft Strömquist die Möglichkeiten des Comics aus, so sie doch sehr klar voraussetzungsreiche Thesen vorstellt. Hartmut Rosas Theorie der Resonanz erklärt sie auf wenigen Seiten gut genug, um ein eigenes Weiterdenken zu ermöglichen.

Sogar Jacques Lacans „großer Anderer“ tritt auf, ein blauer Riese, der mit Markenlogos und religiösen Symbolen bedeckt als personifiziertes Unbewusstes Wünsche diktiert, die viele für die ganz eigenen halten mögen.

Da, wo sie gestalterisch fast nur auf das Lettering von Tinet Elmgren setzt, das immer etwas von einem Spickzettel hat, den man sich unter der Schulbank durchreicht, wird deutlich: Diese Botschaften sind für dich – und sie kommen von einer Freundin.

Überhaupt fühlt sich das Buch wie ein wunderbarer Saufabend mit einem sehr klugen, belesenen Menschen an, der mitfühlt, aber nicht toleriert, das kostbare Leben schlechten Rat­ge­be­r*in­nen wegen zu vergeuden.

Wie schreibt sie es doch im Verlauf der Geschichte: „Das Leben ist supergut, auch mit Trauer und Verlust. Aber „das wisst ihr ja wohl selbst!!“

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