Neue pakistanische Großoffensive: Sturm auf die Taliban-Hochburgen
Pakistans Armee attackiert die Taliban an der Grenze zu Afghanistan. Schon 100.000 Zivilisten flohen aus der Region. Nun verhängt das Militär eine Ausgangssperre.
Die möglicherweise entscheidende Offensive gegen die Taliban hat in Pakistan begonnen. Mehr als 28.000 Soldaten rückten am Wochenende in Südwasiristan, der Hochburg der Militanten an der Grenze zu Afghanistan, gegen Stellungen der Taliban-Bewegung Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP) vor. Unterstützt wurden sie durch Kampfflugzeuge und schwere Artillerie, berichteten pakistanische Medien. "Die Armee hat eine Operation eingeleitet, nachdem diese von der Regierung angeordnet worden ist", sagte Armeesprecher Athar Abbas am Samstag. "Kampfflugzeuge und Bodentruppen nehmen daran teil." Aufnahmen aus der Region zeigten vorrückende Truppen und Rauch, der aus beschossenen Gebäuden aufstieg.
In den ersten 24 Stunden der Großoffensive der pakistanischen Bodentruppen hat die Armee nach eigenen Angaben 60 mutmaßliche Talibankämpfer getötet. Wie die Armee am Sonntag mitteilte, wurden auch fünf Soldaten getötet und elf weitere Militärangehörige verletzt. Pakistanische Medien berichteten, die Taliban leisteten erbitterten Widerstand. Aus Armeekreisen hieß es hingegen, der Widerstand der Taliban sei zunächst schwächer als erwartet gewesen.
Tausende von Menschen sind bereits in den vergangenen Monaten geflohen, als eine Offensive immer wahrscheinlicher wurde. Derzeit sollen sich insgesamt rund 100.000 Menschen auf die Flucht begeben haben. Dabei ist es vielen unmöglich, jetzt noch die umkämpfte Region zu verlassen: Die Zufahrtswege sind gesperrt, es herrscht eine strikte Ausgangssperre. Alle anderen haben in Camps Zuflucht gefunden, die in den benachbarten Gebieten Tank und Dera Ismail Khan liegen. Hilfsorganisationen warnen, dass die Zahl der Vertriebenen massiv ansteigen könnte.
Die Armee berichtet schon jetzt von ersten Erfolgen. Angeblich besetzten bereits am Samstag Armeeeinheiten die Talibanhochburg Spinkai Raghzai, nachdem sich die Militanten von dort in die angrenzenden Berge zurückgezogen hatten. Lokale Beobachter berichteten, die Makeen-Region sei besonders schwer beschossen worden. Die Gegend gilt als Hochburg des Mehsud-Stammes, aus dem vermutlich die meisten Talibankämpfer stammen.
Sieben Distrikte: Zu den Stammesgebieten im Nordwesten Pakistans gehören Bajaur, Khyber, Kurram, Mohmand, Oraksai, Nord- und Südwasiristan. Südwasiristan ist an der bergigen Grenze zu Afghanistan gelegen. Die Region gilt als Unterschlupf pakistanischer und afghanischer Rebellen. Die USA vermuten dort auch den Extremistenführer Ussama Bin Laden.
Bevölkerung: Die meisten der vier Millionen Bewohner sind Paschtunen, die auch den größten Teil der Bevölkerung in Süd- und Ostafghanistan ausmachen. Über einen Großteil des Bezirks Südwasiristan herrscht der Stamm der Mehsud. Zu ihm gehört auch die Talibanorganisation Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP), der eine landesweite Serie von Anschlägen mit 2.300 Todesopfern in den vergangenen zwei Jahren zur Last gelegt wird. Im gesamten Stammesgebiet sollen bis zu 25.000 TTP-Kämpfer aktiv sein, in Südwasiristan allein 12.000.
Verwaltung: Die Region gilt als Land ohne Gesetz. Die Bezirke stehen unter einer Art Bundesverwaltung, die den Regeln der früheren Kolonialmacht Großbritannien aus dem Jahr 1901 folgt. Durch die darin vereinbarte Teilautonomie versuchte das britische Empire damals, die gegen die Kolonisation kämpfenden paschtunischen Rebellen milde zu stimmen. (afp)
Bereits seit Monaten hat sich die Armee in angrenzenden Gebieten in Stellung gebracht und vermutete Waffendepots, Terrorcamps und Verstecke der Militanten aus der Luft unter Beschuss genommen. Der US-Geheimdienst CIA führte dort ebenfalls gezielte Luftschläge durch. Anfang August kam dabei der langjährige Talibanchef Baitullah Mehud ums Leben. Sein Nachfolger Hakimullah Mehsud überzog das Land seitdem mit einer Terrorwelle, der in Lahore, Peschawar und Rawalpindi mehr als 160 Menschen zum Opfer fielen. Mit den Anschlägen wollte der TTP-Führer unter anderem den Tod seines Vorgängers rächen.
Zahlreiche Stämme in angrenzenden Bezirken haben nach einer Aufforderung durch die Regierung der Nordwestgrenzprovinz Milizen aufgestellt, die nun vermutlich an der Seite der Armee gegen die teils kriminellen Talibangruppen kämpfen. Südwasiristan ist das Kerngebiet der TTP. Die afghanischen Taliban nutzen das Gebiet als Rückzugsraum, ebenso werden dort die Anführer von al-Qaida vermutet. Die Armee nimmt an, dass dort 10.000 Militante kämpfen, unter ihnen 1.500 aus dem Ausland. Manche Beobachter gehen davon aus, dass die TTP über bis zu 20.000 Guerillakämpfer verfügt.
Regierung und Geheimdienste erklärten zunächst, dass die Armee auch in den absoluten Talibanhochburgen Ladha und Makeen Jagd auf die Militanten macht. Die Armee greife gleichzeitig aus drei Richtungen an, während Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber Stellungen der TTP unter Beschuss nähmen.
Der Beginn der Großoffensive war zu erwarten. Vergangenes Wochenende schossen bewaffnete Angreifer einer Gruppe, die dem Umfeld der Tehrik-e-Taliban zugerechnet wird, auf das Areal des Armeehauptquartiers in Rawalpindi bei Islamabad. Sie drangen in ein Gebäude auf dem eigentlich streng gesicherten Gelände ein und nahmen mehr als 40 Geiseln. Erst am Morgen des darauffolgenden Tages konnten Mitglieder eines Sonderkommandos der Armee die Angreifer töten und die Geiseln befreien.
Nach diesem Angriff war vielen Beobachter klar, dass die Armee bald ihre Offensive in Südwasiristan starten würde. Es ist bereits das zweite Mal, dass die Taliban mit ihrem Vorgehen eine große Militäroperation provoziert haben.
Anfang des Jahres versuchte Islamabad noch, sich mit den Taliban im Swat-Tal nordwestlich von Islamabad friedlich zu einigen. Dort kämpfte seit 2003 der radikale Kleriker Maulana Fazlullah für die Errichtung eines Gottesstaates nach dem Vorbild der afghanischen Taliban. Pakistans Regierung und die Regierung der Nordwestgrenzprovinz boten Fazlullah an, die Scharia in Swat und dem umgebenden Malakand-Regierungsbezirk einzuführen, wenn seine Miliz im Gegenzug die Waffen niederlegt und ihren bewaffneten Kampf beendet. Das Ausland, allen voran die USA, zeigten sich entsetzt.
Doch die Taliban hielten sich nicht an die Absprache. Im April drangen Talibanverbände aus dem Swat-Tal in die südlich gelegene Region Buner ein. Nur 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt patrouillierten Talibankämpfer durch die Straßen. Die Regierung in Islamabad und vor allem die Armee waren international blamiert.
Zugleich verübten Militante immer mehr blutige Anschläge in Pakistans einfluss- und bevölkerungsreichster Provinz Pandschab, in der auch Islamabad liegt. Ein Video aus dem Swat-Tal tauchte auf, auf dem Talibankämpfer eine junge Frau mit einem Stock öffentlich züchtigen. Sie soll mit einem Mann auf der Straße angetroffen worden sein, mit dem sie nicht verwandt war. Die öffentliche Meinung wandte sich entschieden gegen die Taliban. Die Mehrheit der Pakistaner forderte die Regierung dazu auf, dem Talibanterror ein Ende zu bereiten.
Dennoch überrascht es, dass die Armee nicht schon viel früher zugeschlagen hat. Der Grund dafür seien die vielfältigen Verflechtungen, die Pakistans Sicherheitsapparat mit den Militanten hat, erklärt Farrukh Saleem vom Center for Research and Strategic Studies. "Die nationale Verteidigungsstrategie Pakistans baute lange auf dem Einsatz nichtstaatlicher Akteure auf, an der westlichen sowie an der östlichen Grenze des Landes", sagte Saleem. "Das ist nur natürlich und findet sich immer wieder in der Geschichte: dann nämlich, wenn ein Staat einen Feind hat, dessen Streitkräfte überwältigend stärker sind als die eigenen."
Dann gebe es die Tendenz, unkonventionelle Instrumente der Außenpolitik einzusetzen: ob in Form von Taliban, in Form von Dschihadkämpfern oder durch die Entwicklung eines Atomsprengkopfes. "Und so hat auch Pakistan diese nichtstaatlichen Akteure unterstützt und die Beziehungen zu ihnen aufrechterhalten", sagt Saleem weiter.
Deswegen hat die Armee lange gezögert, gegen die Militanten im Nordwesten des Landes vorzugehen. Auch wenn Militär und der Geheimdienst ISI zu den pakistanischen Taliban sicher nur begrenzt Kontakte unterhalten haben, dienten sie Pakistan dennoch zur dauerhaften Sicherung seines Einflusses auf Afghanistan. Denn die Beziehungen zwischen Kabul und Islambad sind angespannt. Indien, Pakistans Erzfeind, tritt in Afghanistan jedoch mit Investitionen in Infrastrukturprojekte und Hilfsgelder immer selbstbewusster auf.
Solange Afghanistan von Militanten instabil gehalten wird, hat Pakistan noch Einfluss auf seinen nördlichen Nachbarn - das ist offenbar das Kalkül des pakistanischen Sicherheitsapparats. Doch anscheinend hat der Angriff der TTP auf das Armeehauptquartier dieses gedankliche Band zwischen dem Sicherheitsapparat und den Militanten im Nordwesten des Landes auf absehbare Zeit zerrissen.
Der Angriff auf das Armeehauptquartier vergangene Woche entfachte im Ausland von Neuem die Sorge, eine Terrorkommandoeinheit könnte eine Abschussvorrichtung für Atomraketen stürmen und in Besitz eines Atomsprengkopfes kommen. Farrukh Saleem sagt: "4.000, 5.000 oder 15.000 Taliban, bewaffnet mit Kalaschnikows, können nicht eine Armee schlagen, die derzeit die sechstgrößte der Welt ist! Denn das sind halbgebildete Seminarschüler."
Weiter sagt der Experte vom Center for Research and Strategic Studies, die Taliban hätten keine Ahnung, was eine Atomwaffe sei. Es gebe einen Zündmechanismus, ein Trägersystem und mehrere Codes. "Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass die Taliban diese Codes brechen können, diese Komponenten zusammenbauen und in eine abschussfähige Waffe verwandeln. Ich sehe nicht, dass die Taliban je in der Lage sein werden, unser nukleares Arsenal in Besitz zu nehmen. Diese beiden Befürchtungen werden in der westlichen Presse weit übertrieben."
Die Armee steht nun unter großem Zeitdruck: In wenigen Wochen beginnt der Winter. Das bedeutet in den hohen bis mittelhohen Bergen Südwasiristans meterhohen Schnee, der jeden militärischen Vormarsch zum Erliegen bringen würde. Sollte die TTP bis dahin nicht empfindlich geschwächt sein, droht ein zermürbender Guerillakrieg. Vermutlich würde es dann sogar schwer fallen, die bis dahin eroberten Gebiete zu halten.
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