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Neue Technologie für Museen3D für erlebte Geschichte

Auf einem französischen Dokumentarfilmfestival wurden die neuesten Virtual-Reality-Anwendungen gezeigt. Das ist auch für Museen interessant.

Still aus dem Film „Letters From Drancy“ Foto: East City Films

An einem Septembertag des Jahres 1940 sitze ich auf der mit einer löchrigen Plane bedeckten Ladefläche eines Lastwagens der Firma Welter. Er hat gerade angehalten, in Luxemburg, an der Grenze zu Frankreich. Es ist stockdunkel. Nur durch die kleinen Risse in der Plane dringen dünne Sonnenstrahlen, die in ihren schmalen Lichtkegeln Staubpartikel und Abgasschwaden erhellen.

Das Atmen fällt mir schwer. Um mich herum Säcke, vielleicht mit Sand gefüllt, die mich verbergen. Von draußen höre ich den laufenden Motor, das Getrappel von Stiefeln, Stimmen. Langsam setzt sich das Fahrzeug wieder in Bewegung. Der Grenzübertritt nach Frankreich ist geschafft.

Eine andere Sequenz: Nachts, Juni 1944, auf einem Bauernhof bei Saint-Hilaire-du-Harcouët in der Normandie. Dunkler Himmel. In der Ferne höre ich das Donnern der Bomben. Einzelne Brandherde erhellen die Dunkelheit. Dann ein schwaches, vibrierendes Brummen, das lauter wird. Es sind die Motoren unzähliger amerikanischer und britischer Flugzeuge, die nun über den Hof hinwegziehen – die Invasion der Alliierten ist in vollem Gange.

Das alles sind Eindrücke, die Marion Deichmann als Kind erlebt haben muss. Und die alle Nutzerinnen und Nutzer der VR-Anwendung „Letters from Drancy“ genauso nacherleben können. Per Headset und mit stereoskopischen Bildern, die die Betrachtenden in eine völlig andere Welt versetzen und ihnen die bewegende Geschichte Deichmanns vermitteln: Sie war noch ein Baby, als ihre jüdischen Eltern kurz nach Hitlers Machtantritt von Karlsruhe nach Luxemburg übersiedelten.

Mit ihrer Mutter flieht die Siebenjährige 1940 nach Paris, wo ihre Mutter verhaftet wird und das verzweifelte Kind allein zurückbleibt. Über Helferinnen und Helfer gelangt sie schließlich in die Normandie, wo sie Krieg und Verfolgung überlebt und später in die USA auswandert.

Doppeläugiges Sehen

Beauftragt wurde die Anwendung vom Illinois Holocaust Museum & Education Center in den USA, wo sie jetzt dauerhaft zu sehen ist. Gezeigt wurde die 22-minütige VR-Doku im Sommer auf einer Messe für Dokumentarfilme, der „Sunny Side of the Doc“ in La Rochelle, wo zahlreiche Beispiele für diese Art von „immersiver Wissensvermittlung“ präsentiert wurden.

Anders als etwa ein TV-Bildschirm ermöglicht eine Virtual-Reality-Brille räumliches Sehen: Statt beispielsweise einen Film in 2D anzuschauen, tauchen die Trä­ge­r*in­nen der Brille in eine vom Computer simulierte Wirklichkeit ein, was auch als „Immersion“ bezeichnet wird. Seit einigen Jahren wird dies auch für Museen immer interessanter. Vor allem die jüngere Generation könne so angesprochen werden, so die Hoffnung.

Menschliches Sehen ist räumlich, also dreidimensional: Das linke und das rechte Auge nehmen die Umgebung getrennt und leicht versetzt wahr, aber gleichzeitig. Das wird auch als stereoskopisches, also doppeläugiges Sehen bezeichnet. Das Gehirn synchronisiert diese beiden, sich überschneidenden Eindrücke, fügt sie zu einem einheitlichen Bild zusammen und bestimmt daraus die räumliche Beschaffenheit des erblickten Objekts.

VR-Brillen imitieren dieses stereoskopische Sehen: Rechts und links befindet sich je ein Display, das einen leicht unterschiedlichen Bildausschnitt der virtuellen Wirklichkeit zeigt. Aus diesen Informationen errechnet das Gehirn einen dreidimensionalen Eindruck der Simulation.

Zusätzlich wird über VR-Tracking-Technik die reale Bewegung der Nut­ze­r*in­nen in die virtuelle Welt übertragen. So können sie sich im virtuellen Raum so bewegen, als würden sie selbst dort stehen. Über Kopfhörer kommt die entsprechende Akustik hinzu. Augmented-Reality-Brillen funktionieren ähnlich, ergänzen aber lediglich die reale Umgebung um digitale Elemente.

„Virtual Reality wird mehr und mehr benutzt“, erklärt Messe­organisatorin Maïté Labat die Entscheidung für diesen Schwerpunkt an der französischen Atlantikküste. „Es ist eine Möglichkeit für die Konsumenten, Teil der Geschichte zu sein, in die Geschehnisse einzutauchen, diese noch besser mitzuerleben und zu verstehen“, ist sich Labat, die früher auch für das Pariser-Louvre-Museum tätig war, sicher.

Dass viele Verantwortliche großer Ausstellungshäuser auch nach La Rochelle kamen, beispielsweise vom Musée d’Orsay, dem Louvre oder der britischen Science Museum Group, liegt für Ulrich Kernbach vom Deutschen Museum auf der Hand. „Es gibt verbindende Elemente von Dokumentarfilmproduzenten und musealen Präsentationen“, sagt der Ausstellungsleiter.

Virtual Reality wird mehr und mehr benutzt. Es ist eine Möglichkeit für die Konsumenten, Teil der Geschichte zu sein, in die Geschehnisse einzutauchen

Maïté Labat, Messeorganisatorin

Auch er ist froh, in die französische Hafenstadt gereist zu sein: „Die Szene ist unfassbar kreativ. Wir haben uns hier wirklich inspirieren lassen.“ Besonders beeindruckt war der Mitarbeiter des Deutschen Museums von einer VR-Show des Musée d’Orsay, die die Besucherschaft in das Jahr 1874 zurückversetzt. Damals fand in Paris die erste Impressionisten-Ausstellung statt.

Digitales Storytelling

Im Deutschen Museum gab es ebenfalls schon erste Experimente mit neuen Technologien. „Wir haben unter anderem eine Sulzer-Dampfmaschine ausgestellt. Nach einem 3D-Scan und einer digitalen Nachkonstruktion konnten auch die Vorgänge im Inneren der Dampfmaschine visualisiert werden“, sagt Kernbach und ergänzt: „Ich bin mir sicher, dass man zum Erleben naturwissenschaftlicher und technologischer Phänomene VR und AR sehr gut nutzen kann.“

Ihn begeistert zum Beispiel die Idee, Moleküle mit Proteinstruktur in einem virtuellen Raum in verschiedenen Konstellationen anzuordnen, damit Rezeptoren zum Beispiel mit einem Medikament interagieren. Genau das kann die Anwendung „Nanome“, die von einem gleichnamigen Start-up in San Diego entwickelt wurde. Die Anwendung ist nicht nur für Forschungs- und Entwicklungslabors gedacht, sondern auch für Studenten und alle, die sich für Chemie und Biologie interessieren.

Unterstützung beim Einsatz immersiver Technologien im Ausbildungsbereich verspricht in Deutschland das VR Education Center Hannover. Angeboten werden hier zum Beispiel Applikationen wie „3D Organon VR Anatomy“, mit dem Skelettsystem, Muskeln, Gefäße, Nerven und andere Organe in 3D visualisiert werden können. Oder der „AR VR Molecules Editor“: Mit ihm lassen sich in einem Smartphone-VR-Headset 3D-Molekülmodelle von organischen und anorganischen Verbindungen bauen.

Für Kernbach ist jedenfalls klar: „Wir müssen das Thema in Zukunft noch stärker angehen.“ Über fünf Jahre wurde dazu in München das Projekt „museum4punkt0 – 3D-Visualisierung“ durchgeführt, um im Austausch mit den Be­su­che­r*in­nen zu erproben, wie man digitales Storytelling mithilfe neuer Technologien sinnvoll einsetzen kann. Die neue Sonderausstellung „Licht und Materie“, die Quantenphysik multimedial begreifbar machen soll, ist gerade gestartet.

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