Neue Romane über Erinnerungskultur: Sie denkt, sie sei weiß
Elliot Perlman hat einen Roman geschrieben, der die Erfahrung der Konzentrationslager mit der Geschichte des Rassismus in den USA kurzschließt.
„Die Erinnerung ist ein sturer Hund. Sie kommt, wenn sie hungrig ist, nicht wenn du es bist. Die Erinnerung lässt sich nicht rufen oder wegschicken, aber ohne dich kann sie nicht überleben“, sinniert Lamont Williams. Der Afroamerikaner ist einer der Protagonisten von „Tonspuren“.
Dass Lamont Williams Überlegungen am Anfang dieses Romans stehen und dass er, wie so viele junge Männer seiner Hautfarbe in einem US-amerikanischen Gefängnis sitzt, hat seinen Sinn: Elliot Perlman hat einen Roman über Rassismus und Erinnerung geschrieben, in dem historische Begebenheiten auf halbfiktionale und erfundene Charaktere treffen.
Perlman hat das Buch der Erinnerung acht Frauen gewidmet. Vier von ihnen wurden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau öffentlich hingerichtet. Sie hatten die Männer des Sonderkommandos, die in den Gaskammern und Krematorien arbeiten mussten, mit Material zum Bau von Granaten versorgt. Die anderen vier, junge Afroamerikanerinnen, starben an den Folgen eines Bombenattentats des Ku-Klux-Klans im September 1963. All diese Frauen seien „verschiedenen Erscheinungsformen desselben Übels“ zum Opfer gefallen, schreibt Perlman.
Auf den gut 700 Seiten seines dritten Romans entwickelt der australische Autor, der zuvor als Anwalt gearbeitet hat, eine komplizierte Geschichte, deren jüngste Zeitschicht am Ende der Nullerjahre angesiedelt ist und deren gesamtes Personal auf unwahrscheinlichste Weise miteinander zusammenhängt. Perlman lässt einen Überlebenden des Sonderkommandos von Auschwitz namens Mandelbrot, der in einem New Yorker Krankenhaus auf den Tod wartet, dem nach seiner Haftentlassung hier arbeitenden Lamont Williams seine Geschichte erzählen. Perlman versetzt seine Leser in die Gaskammern von Auschwitz und berichtet von den Widerstandsplänen des Sonderkommandos.
Singuläres Ereignis
„Beim Anblick des Leichenbergs, der auf ihn wartete, wusste Mandelbrot, dies war das Ende aller Tage, wie er sie gekannt hatte. Nicht nur für ihn, sondern auch für die Welt.“ Perlman sieht das Geschehen in den Vernichtungslagern als singulären Moment an, hinter den die Menschheit nicht zurück kann. Trotzdem lässt er sich in Zusammenhang bringen mit anderen Ereignissen. Rassismus beginnt mit Gedanken und Worten. Er setzt sich fort in administrativen Maßnahmen des Ausschlusses und kann in Pogrom und Vernichtungslager, im Lynchmob und im Bombenanschlag enden.
So erzählt Perlman auch, wie die junge Afroamerikanerin Elizabeth Eckford versucht, am 4. September 1957 in Little Rock, Arkansas, eine weiße Schule zu besuchen. Der oberste Gerichtshof der USA hatte drei Jahre zuvor die Segregation an den Schulen für verfassungswidrig erklärt. Die vom Gouverneur von Arkansas herbeigeholte Nationalgarde lässt das Mädchen nicht ein, während es von einem weißen Mob umzingelt wird: „Lyncht sie! Die Niggerschlampe kommt uns nicht auf unsere Schule.“
Perlmans Erzählung ist auf die Erfahrung Elizabeth Eckfords gerichtet. Der Leser soll nachempfinden, was es heißt, dem Hass des Mobs ausgesetzt zu sein. Was Rassismus bewirkt, beschreibt er treffend, wenn er Lamont Williams’ Innenwelt erkundet: „Es war, als erwarte ihn jederzeit ein furchtbares Unheil, das er nicht ergründen und darum auch nicht abwenden oder vermeiden konnte.“
Dass es trotz der in vieler Hinsicht problematischen Beziehung zwischen jüdischen und schwarzen Amerikanern so etwas wie eine gemeinsame jüdisch-afroamerikanische Erfahrung und Geschichte gibt, zeigt Perlman an einer Anekdote, in der sich weiße Gewerkschafter mit schwarzen Arbeitern in einer Bar in Chicago treffen. Es sind die Vierzigerjahre. Die junge Bedienung will den Schwarzen wegen ihrer weißen Stammgäste nichts servieren. Bis ihr Vater sie zurechtweist und den Gästen entschuldigend erklärt, seine Tochter sei in den USA geboren: „Deswegen glaubt sie, sie ist weiß.“ Der Vater weiß: Ein jüdisches Mädchen kann sich als Weiße missverstehen, wird aber früher oder später eines Besseren belehrt werden.
Historische Wirkmächtigkeit
Perlman hat aber den Ehrgeiz, dieser gemeinsamen Erfahrung auch eine historische Wirkmächtigkeit zuzuschreiben. Deswegen lässt er einen anderen Protagonisten, den jungen Historiker Adam Zigelnik, danach forschen, was der Umstand, dass schwarze G.I.s, die seit 1943 in segregierten Einheiten in Europa kämpften und bei der Befreiung von Konzentrationslagern dabei waren, für die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in den USA bedeutet haben könnte. Dort hatten viele jüdische Anwälte an der Seite von afroamerikanischen Kollegen gearbeitet. Bald erschöpft sich diese spannende Frage aber in dem Bemühen, nachzuweisen, dass schwarze G.I.s auch Dachau befreiten.
Auf seiner Mission findet der Historiker Adam Zigelnik etwas, das er nicht gesucht hat: Er hebt den Schatz des Archivs von David Border. Der Psychologe reiste 1946 nach Europa, um in verschiedenen Camps für Displaced Persons traumatisierte Überlebende des Holocaust zu interviewen. Wie viele der Protagonisten des Romans trägt auch die Figur des David Border Züge einer realen Person. Der in Lettland geborene und vor dem Krieg in die USA ausgewanderte jüdische Psychologe David P. Boder war wirklich mit einem damals neu entwickelten Drahttonaufnahmegerät in Europa unterwegs. Er arbeitete den Rest seines Lebens daran, die Gespräche zu transkribieren.
1949 erschienen acht der Interviews unter dem Titel „I Did Not Interview the Dead“ in englischer Übersetzung. Die meisten seiner Gespräche mit Überlebenden hatte Boder auf Deutsch, Jiddisch und Russisch geführt. Vor anderthalb Jahren erst wurde Boders Buch vom Heidelberger Universitätsverlag Winter erstmals auf Deutsch veröffentlicht, wobei als Grundlage für die fünf der acht im Original deutschen Interviews die Originaltonaufnahmen benutzt wurden. Inzwischen kann man die Aufnahmen auch im Internet hören und dabei das Transkript und die englische Übersetzung lesen.
David Borders Tonaufnahmen
Perlmans Roman gebührt das Verdienst, auf das einzigartige Projekt Boders hinzuweisen, Überlebende der Schoah in ihrer eigenen Sprache über das von ihnen Erlebte erzählen zu lassen. Perlmans Projekt ist getragen von der jüdischen Idee, dass jeder und jede Einzelne eine Welt in sich trägt, die mit dem Tod unwiderruflich verschwindet, woraus sich das Gebot der Erinnerung ergibt. Wenn man „Tonspuren“ liest, fragt man sich aber, ob ein Roman im Stil des 19. Jahrhunderts so wie Perlman ihn geschrieben hat, die angemessene ästhetische Form des Umgangs mit Erinnerungen an kollektiv organisierte Gewalt ist.
Als Adam Zigelnik einem Karriereknick entgegenblickt, trennt er sich von seiner Freundin. Das führt dann zu ermüdenden Dialogen im Stil drittklassiger TV-Produktionen und wirft die Frage auf, was diese Geschichte mit den historischen Nacherzählungen des Romans zu tun hat. In der New York Times wurde er auch deswegen verrissen: Das dicke Buch enthalte die Substanz einer Novelle. Abgesehen von ästhetischen Mängeln kritisierte der Rezensent David Gates die idealisierte Verbindung der Opfer der Geschichte. Ein weiteres Problem sah er in der Reinheit der Hauptfigur, die an keiner Stelle irgendwelche Skrupel entwickle, auf den Horrorgeschichten aus Auschwitz eine neue Karriere aufzubauen.
Bild des Wohlgefallens
Tatsächlich löst sich der Roman in einem versöhnlichen Bild des Wohlgefallens auf. An einer New Yorker Straßenecke unterhalten sich der Sohn eines jüdischen Anwalts der schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit einer afroamerikanischen Onkologin und einem unschuldig verurteilten afroamerikanischen Exsträfling, der die Chanukkia eines vor Kurzem verstorbenen Überlebenden der Schoah unter dem Arm trägt. Und dann kommt noch ein kleines Mädchen dazu. Es sei ein erhebendes Bild, kommentiert Perlman seine Szene. Wenn die Erinnerung ihren Platz in der Gesellschaft finde und Zeugnis abgelegt werde, sei noch nicht alles verloren.
Der Auschwitz-Überlebende Otto Dov Kulka hat darüber berichtet, wie der Kinderchor des Familienlagers in Auschwitz unter der Leitung eines jüdischen Häftlings Schillers „Ode an die Freude“ sang. Kulka fragt sich, ob dies ein Protestakt war, ein Festhalten an den humanistischen Werten, oder nicht eher ein Akt des extremen Sarkasmus „an der äußersten Grenze des Amüsements, das sich ein Mann erlaubte, der eine Gruppe argloser Kinder in seiner Obhut hatte und ihnen arglose Werte einflößte – erhabene, wunderbare Werte –, obwohl er selbst wusste, dass diese Werte keinen Sinn und keinen Zweck haben und bedeutungslos sind.“
Erinnerungen sind prekär. Wenn es sich um verstörende handelt, werden sie gern verdrängt oder vergessen, das gilt für Einzelne wie für Gesellschaften. Manche Erinnerungen und Zeugnisse stören den ungestörten Fortgang der Dinge aber auf ganz fundamentale Weise, weil sie jede Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens und jede Ethik dementieren. Elliot Perlman hat sich dafür entschieden, optimistisch zu sein.
■ Elliot Perlman, „Tonspuren“, DVA, München 2012. 704 S., 24,99 Euro ■ David P. Boder, „Die Toten habe ich nicht befragt“, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011. 368 S., 25 Euro
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