Neue Nationalerie wiedereröffnet: Gegenwart für die Zeitkapsel
Die Neue Nationalgalerie in Berlin ist wieder ganz die Alte. Neu ist die Anlage der Dauerausstellung, die jetzt viele Künstlerinnen präsentiert.
Die Neue Nationalgalerie in Berlin sieht jetzt – zur Wiedereröffnung für das Publikum am Sonntag – genauso aus wie zu ihrer ursprünglichen Eröffnung im Jahr 1968. Zu erleben ist ein Tempel für die Kunst aus Glas und Stahl, der schon zur Fertigstellung fast allen Kommentatoren als eine Ikone der modernen Architektur galt.
Dass die Neue Nationalgalerie nach fünfjähriger Sanierung durch den britischen Stararchitekten David Chipperfield jetzt augenscheinlich ganz die Alte ist, wirkt insofern erstaunlich, weil sich um den von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Bau herum alles verändert hat – die Stadt, die Menschen und der alle und alles durchwehende Zeitgeist.
Bei der Betrachtung der Geschichte scheint es tatsächlich so zu sein, als ob der Geist der Zeit die Menschen packen und zwingen würde, ihm zu gehorchen. So auch in dieser historischen Stunde bei den für die Nationalgalerie Verantwortlichen von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Denn der Zeitgeist setzt auf Rekonstruktion und Retrokult.
Aber: Wenn nun die Neue Nationalgalerie in der alten Frische auftritt, dann heißt das eben noch nicht, dass damit die gleichen Aussagen getroffen würden wie ehedem. Mies’ Nationalgalerie war nämlich der Schlusspunkt einer Epoche, die mit dem zur Chiffre gewordenen Jahr 1968 zu Ende ging. Die Nationalgalerie ist zugleich das letzte von Mies selbst fertiggestellte Werk. Er starb 1969.
Der Zeitgeist aber hatte sich ab 1968 gewendet. Der damalige Generaldirektor der Staatlichen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Stephan Waetzoldt, formulierte diese kulturelle Wende 1970 in seiner Forderung nach der „Fähigkeit des Museums, sich dem Leben der Bevölkerung zu integrieren“.
Kunsttempel mit Terrasse
Für Mies’ Nationalgalerie passt diese Devise nicht wirklich. Der Bau ist ein Kunsttempel, er schafft mit erhöhtem Podium und raumgreifender Terrasse Abstand zum Stadtleben und holt die Stadt dann doch (als Bild) zurück in die gläserne Halle unter dem monumentalen Stahldach. Der Mies-Bau ist gerade wegen seines Rückgriffs auf erhabene Architekturformen heute eigentlich ein Anachronismus, da er die Schwelle zur Kunst eben gerade nicht erniedrigt, wie das seit 68 mit der Nivellierung von Kunst und Leben zum Zeitgeist geworden ist.
Daher nimmt es nicht wunder, dass dem Retrokleid der Nationalgalerie – der Leiter des Hauses, Joachim Jäger, spricht selbst von „Time capsule“ – doch noch etwas vom heutigen Zeitgeist eingepflanzt werden muss. Dies passiert nicht in formaler Konfrontation, sondern durch geistige Kommentierung: Einher mit der Wiedereröffnung kommen jetzt gleich vier Ausstellungen im Haus zum Zuge, die diese Strategie mehr oder weniger verfolgen.
Am dichtesten dran an Mies ist Alexander Calder in der großen oberen Halle. Der US-Künstler Calder passt deshalb so gut zu Mies, weil seine kleinen und weniger kleinen bewegten Mobiles und seine beschwingten, meist sehr großen Stabiles eine Ergänzung zur notwendig statischen Architektur darstellen. Die bewegten Formen und beweglichen Teile Calders liefern ein Komplement zum modern interpretierten Klassizismus Mies van der Rohes.
Organische Formen
Allegorische Skulpturen haben die Architektur (nicht nur bei Mies van der Rohe) schon lange begleitet oder auch Wasserbassins, wie es sich auch im Garten der Nationalgalerie findet. Außerdem gründen Calders Stahlskulpturen immer noch in organischen oder anthropomorphen Formen. So auch bei seinem über Jahrzehnte auf der Terrasse der Nationalgalerie platzierten Werk „Têtes et queue“ (1965), das nach der Sanierung dorthin zurückgekehrt ist.
Mies hat Calders Skulpturen geschätzt. In Chicago, Mies’ Wahlheimat seit 1938, komplettiert Calders roter Flamingo die von Mies’ Wolkenkratzern umstandene Federal Plaza, die man sich ohne den Riesenvogel aus Stahl gar nicht vorstellen kann. Die ästhetische Paarung der Zeitgenossen von Mies und Calder jetzt in der Nationalgalerie trägt also trefflich zur Ausstattung der Time capsule bei.
Bei Rosa Barbas Soloschau im Graphischen Kabinett im Untergeschoss mit ratternden Filmprojektoren, sich schlängelnden Filmstreifen und farblichternden Projektionen ist die Aktualisierung der analogen Epoche in heutige Perspektiven schon deutlich anzumerken. Bei der kleinen Ausstellung zur Baugeschichte des Hauses verfährt man dagegen eher neutral anhand vieler (reproduzierten) Dokumente nebst Architekturmodellen und Mies-Sessel.
So viel Mies wie möglich
Bei der Neupräsentation der Dauerausstellung im Gebäudesockel gibt es formal kaum Neuerungen. Ein offenes Raumkontinuum mit locker gehängten Bildern an weißer Wand über grauem Teppichboden. Hier trifft sich die retrospektive Haltung mit der Vorgabe für die gesamte Restaurierung: „So viel Mies wie möglich.“
Dementsprechend sind die technischen Neuerungen unsichtbar: Das betrifft die gesamte Gebäudetechnik samt Lüftung, Fußbodenheizung und die gegen Glasbruch ertüchtigte Fassade der Podiumshalle. Chipperfields Größe bei der 140 Millionen Euro teuren Restaurierung bestand darin, dass er sich ästhetisch zurückgenommen hat.
Die neue Schau zur Sammlung der Nationalgalerie (zunächst für zwei Jahre) gibt eine Auswahl von 250 Bildern aus der Zeit von 1900 bis 1945, also ungefähr aus dem, wozu der Mies-Bau ursprünglich bestimmt war, als die Sammlung noch klein, das Publikum eher spärlich und elitär und die Kunstwerke relativ kleinformatig waren.
Weibliches Selbstverständnis
Die Ausstellung zeigt keine reine Stilgeschichte der Moderne, sondern gliedert sich nach gesellschaftlichen Themen: Großstadt, Trauma (des Ersten Weltkriegs) und Vernichtung (im Zweiten Weltkrieg) oder das neue weibliche Selbstverständnis. Expressionismus und Kubismus präsentieren sich nun als zwei Weisen der Suche nach neuen Ausdrucksformen, was wiederum Ergebnis gesellschaftlichen Fortschritts war.
Die neuen Kontexte bei Wandtexten und Zusatzinformationen auf frei im Raum befindlichen Textbannern bringen den aktuellen Zeitgeist in die Präsentation der historischen Objekte hinein. So etwa bei Emil Noldes Gemälde der „Papua-Jünglinge“ von 1914, das in der Schau explizit in den Zusammenhang von Rassismus und Kolonialismus gestellt wird.
Die jetzt um viele Werke von Frauen – Lotte Laserstein, Leonor Fini, Hilma af Klint und andere – ergänzte Sammlungsschau macht auch die Rolle der Frau in der ersten Jahrhunderthälfte zum Thema, was die Kuratoren als ein gesellschaftliches „Muss“ verspürt haben.
Der Titel „Die Kunst der Gesellschaft“ für die Sammlungspräsentation formuliert thesenartig, dass es die Gesellschaft ist, die die Kunst macht. Das meint, dass die Bewertung von Kunst und schon der Zugang zur Kunst (der etwa Frauen offiziell in den Akademien wie inoffiziell im Kunstbetrieb lange Zeit verwehrt wurde) im Gesellschaftlichen passiert und eben dem folgt, was man auch Zeitgeist nennt.
Wie sich die Nationalgalerie nun insgesamt präsentiert, wie sie alte Klassiker neu kommentiert, widersteht der Versuchung, das Alte zu entstellen oder zu übertünchen. Um aktuelle Botschaften zu vermitteln, bedarf es keiner Bildstürmerei, sondern viel Vermittlung.
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