Neue Landebahn am Frankfurter Flughafen: Rebellion des Speckgürtels
Im Rhein-Main-Gebiet wächst der Bürgerprotest gegen Fluglärm. Der hessische Ministerpräsident Bouffier sitzt deswegen in der Klemme.
FRANKFURT taz | Alle werden sie wieder kommen am Montag, Mama, Papa, Oma, Opa. Und die Enkel auch. So wie schon im vergangenen Jahr, als ab Mitte November die erbosten Bürger erst zu Hunderten, dann zu Tausenden das Terminal 1, Abflughalle B des Rhein-Main-Flughafens füllten. Immer am Montagabend ab 18 Uhr.
Seit der Eröffnung der neuen Nordwestlandebahn Ende Oktober donnern die Flugzeuge im Landeanflug auch über den Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen und andere Regionen im Speckgürtel Frankfurts, in denen Besserverdienende wohnen. Deswegen demonstrieren die Bewohner gegen den Flughafenbetreiber Fraport.
Menschen aus romantischen Urlaubsgebieten, dem Kinzigtal, dem Taunus und Rheinhessen, befürchten die Verödung ihrer Heimat, weil auch über ihr Land nun Flugzeuge in niedriger Höhe fliegen. Hausbesitzer beklagen die Wertminderung ihrer Immobilien. Der Fluglärm sei Terror, Folter, mache krank. 70 Bürgerinitiativen haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, das rund 150.000 Anwohner repräsentieren soll. Politikfrei wollen sie sein, unabhängig von Kommunen und den Wahlkampfversprechen der Parteien und Bürgermeister.
Neue Landebahn: Am 21. Oktober 2011 wurde am Frankfurter Flughafen die neue Nordwestlandebahn eröffnet - nach jahrelangem Streit. Der Bau der 2,8 Kilometer langen Betonpiste dauerte zweieinhalb Jahre und kostete laut Flughafenbetreiber Fraport 600 Millionen Euro. Die Kapazität des Flughafens soll dadurch um 50 Prozent erhöht werden. Mehr als 200 Hektar Wald mussten gerodet werden.
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Neue Flugrouten: Meist starten und landen die Flugzeuge im sogenannten Westbetrieb - gegen den Westwind. Der Anflug auf die neue Landebahn erfolgt so über den Frankfurter Süden. Hinter der Nordwestbahn muss aus Sicherheitsgründen ein Luftkorridor frei bleiben. Deshalb müssen die Flugzeuge beim Start auf einer der bisherigen Bahnen zunächst in einer Kurve gen Süden fliegen, auch wenn die Reise nach Norden geht.
"Wutbürger" nennen die Demonstranten sich selbst auf Transparenten, skandieren "Wir sind das Volk" und werfen der Fraport Raffgier und Arroganz vor. Es sieht so aus, als entwickele sich hier ein Protest, der dem Protest gegen den neuen Tiefbahnhof in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ähnelt. Ein neues Stuttgart 21.
Bouffier laviert herum
Mit ihrem andauernden Protest haben die Bürger inzwischen Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in eine Zwickmühle gebracht. Der laviert seit Wochen zwischen allen Stühlen. Sein Amtsvorgänger Roland Koch hinterließ ihm ein Planfeststellungsverfahren, das die Mediationsergebnisse zum Nachtflugverbot ausgehebelt hatte, die vor Eröffnung der Landebahn mit Anwohnern und Gemeinden ausgehandelt wurden.
Bis zu 17 Ausnahmenachtflüge sollten zwischen 23 und 5 Uhr erlaubt sein. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof erklärte das im Oktober für rechtswidrig. Das Land klagte beim Bundesverwaltungsgerichtshof dagegen. Das Revisionsverfahren wird im März entschieden. So steht Bouffier nun einerseits hinter der Klage, andererseits liegt ihm als Landesvater auch etwas an Bürgernähe, und so signalisiert er Verständnis.
Dem Fluglärm müssten Grenzen gesetzt werden, sagte er Mitte der Woche in einem Interview. Nicht alles dürfe "nach dem technisch und wirtschaftlich Machbaren definiert" werden. Er stehe hinter dem Mediationsergebnis. Die Landesklage sei lediglich dazu da, Rechtssicherheit zu schaffen. Wenn die Leipziger Verwaltungsrichter nun ebenfalls zu dem Ergebnis kämen, dass das Nachtflugverbot eingehalten und Ausnahmen auf "annähernd null" reduziert werden müssen, dann, so Bouffier, "bleibt es bei null".
Ambivalente Töne sind auch von Bouffiers Parteifreund, dem hessischen Innenminister Boris Rhein, zu hören. Einerseits sei der Flughafen wichtiger Wirtschaftsfaktor, der Ausbau zwingend, andererseits aber gehe das alles auch viel leiser. Rhein kandidiert am 11. März bei der Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt. Der Fluglärm ist zum zentralen Wahlkampfthema geworden.
"Beruhigungspille für die Bevölkerung"
Bouffiers Gesprächsangebot an nur 15 der Bürgerinitiativen für den kommenden Mittwoch allerdings geriet ganz und gar undiplomatisch. Das Bündnis lehnte die Einladung an einzelne Gruppierungen kategorisch ab. Bouffier ließ nachbessern, das Gespräch wird stattfinden. Bündnis-Sprecherin Ingrid Kopp reagierte gestern verwundert über die Kehrtwende des Ministerpräsidenten: "Ich kann gar nicht glauben, was er sagt." Möglicherweise habe der Widerstand ihn dazu bewegt, sagt sie. Sie vermutet "eine Art Beruhigungspille für die Bevölkerung": "Er hätte nur die Revision zurückziehen müssen."
Die neue Landebahn hält sie für "eine absolute Fehlplanung", der Lärm sei auch ohne Ausbau schon die Hölle. Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Hessischen Landtag, Thorsten Schäfer-Gümbel, nannte Bouffier "durch und durch scheinheilig", sein Kollege von den Grünen, Tarek Al-Wazir erklärte: "Man könnte das auch als Heuchelei bezeichnen." Janine Wissler von der Linken konzedierte sportliche Fähigkeiten. Bouffier versuche einen Spagat.
Das Bündnis will Bouffier jetzt seinen Forderungskatalog vorlegen: Stilllegung der neuen Landebahn, absolutes Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr, kein Ausbau der Flughäfen Frankfurt und Erbenheim, weniger Flüge, mehr Sicherheit. Fraport hat inzwischen mehr Geld für weiteren Schallschutz, geänderte Flugrouten und finanzielle Hilfe bei einer Umsiedlung versprochen. Sie will auch besonders belastete Häuser vor dem Ausbau zum Verkehrswert aufkaufen.
Kleinere Widrigkeiten nimmt das Bündnis gelassen. Als das Frankfurter Ordnungsamt die Parole "Wir bringen den Lärm zurück" mit einem Verbot von Tröten, Hupen, Klingeln und Vuvuzelas ahndete, reagierte es mit Gesang. Viele sangen aus voller Kehle ein Weihnachtslied mit neuem Text: "Stille Nacht, fünf nach acht, Deutschland schläft, wir sind wach."
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