Neue Camus-Biografien: Zeitlebens zwischen den Stühlen
Philosoph, Dandy und stets Außenseiter. Zwei neue Biografien sind zum 100. Geburtstag des französischen Schriftstellers Albert Camus erschienen.
Mit offenen Mündern sah ein Millionenpublikum in den vergangenen Wochen einem krebskranken Chemielehrer dabei zu, wie er zum kaltblütigen Mörder und absoluten Bösen wurde, das nichts und niemand aufhalten kann, außer er selbst. In ganz ähnliche Sprachlosigkeit hat das Publikum 1942 Albert Camus’ „Der Fremde“ versetzt; bis heute einer der meistverkauften französischen Romane. Und dieser Walter White aus der amerikanischen TV-Serie „Breaking Bad“ erinnert in vielem an den lakonischen Mörder Meursault.
Wenn Walter White kurz vor seinem gewaltsamen Tod mit „I liked it“ eingesteht, dass der Grund seines Handelns nicht die Sorge um die Familie war, sondern ganz allein er selbst, trifft er im Kern auf Camus’ „Philosophie des Absurden“: Dem Leben lässt sich kein übergeordneter Sinn verleihen, Freiheit erfährt der Mensch immer nur da, wo er das Zufällige des Daseins akzeptiert. Es gibt keine Idee, die die Existenz des Bösen in der Welt erklären, gar rechfertigen könnte.
Anlässlich seines 100. Geburtstags am 7. November zeigen zwei neue Biografien noch einmal die Entwicklung des philosophischen und politischen Denkens Camus’, das um zwei Großthemen kreist: den Konflikt zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Ansprüchen und die Mobilisierung und Legitimierung der Gewalt im 20. Jahrhundert.
Welt, Schmerz, Erde, Mutter, Menschen, Wüste, Ehre, Elend, Sommer und Meer sind die zehn Lieblingswörter von Camus. Iris Radisch, Literaturchefin der Zeit, hat sie als Kapiteltitel ihrer Biografie „Camus. Das Ideal der Einfachheit“ gewählt. Elegant bündelt sie damit die Dramen, Skizzen, Romane, Essays, Reden, politische und journalistische Texte und Tagebücher, die Camus in seinem kurzen Leben hinterlassen hat. Diese Fülle an Material setzt sie gekonnt in die Klammern seiner durch stets wechselnde Orte, Frauen und Tätigkeiten „atemlosen Existenz“.
Dass der 1913 in Algerien geborene, 1960 bei einem Autounfall gestorbene Nobelpreisträger trotz Weltruhm und Dandytum immer ein „Außenseiter“ blieb, ist der große Bogen beider Biografien. Der Sohn aus dem französischen Arbeitermilieu Algeriens, dessen Vater im Ersten Weltkrieg starb, dessen Mutter nicht lesen konnte und auch sonst kaum Worte verlor, der seit seiner Kindheit an Tuberkulose litt und die Hölle des Nationalsozialismus in Frankreich erlebte, wurde von den französischen Intellektuellen wegen seiner Kritik am Marxismus als Verräter betrachtet, als Philosoph nicht ernst genommen und von den algerischen Unabhängigkeitskämpfern wegen seiner Verurteilung jeglicher Gewalt als Kolonialist verachtet.
Den Algerier entdecken
Warum Camus immer „zwischen den Stühlen saß“, liegt für Radisch in den zwei „Polen“ seines Lebens begründet: der einfachen algerischen Herkunft und dem Leben eines weltberühmten Theoriestars im intellektuellen Paris der 40er und 50er Jahre. Radisch geht so weit, selbst die „Tonlosigkeit“ der Sprache, für die „Der Fremde“ als revolutionäre Erneuerung der europäischen Literatur gefeiert wird, biografisch zu erklären. So stammten Schweigen, Kälte und Einfachheit seines Stils schlicht von seiner analphabetischen Mutter.
Martin Meyer setzt in „Albert Camus. Die Freiheit leben“ stärker auf die Darstellung der philosophischen und künstlerischen Quellen wie der hegelianischen Geschichtsphilosophie und der nietzscheanischen und surrealistischen Revolte wider die Vernunft, um den Kampf zu illustrieren, den Camus von seiner akademischen Abschlussarbeit über christliche Metaphysik und Neuplatonismus bis zum Essay „Der Mensch in der Revolte“ lebenslang führte: gegen die „Ideologisierung der Politik“.
„Es ist Zeit, den algerischen Camus zu entdecken“, postuliert Radisch. Und in der Tat ist es angesichts der Entwicklung, die die Revolten in Nordafrika nehmen, lohnenswert, Camus’ Plädoyer, jeglichen Messianismus abzulegen und die politischen Kämpfe mit „Maß“ anzugehen, noch mal gründlicher anzugucken. Camus ist im heutigen Algerien übrigens ein blinder Fleck. Und seine „Algerische Chronik“ bislang nicht mal ins Deutsche übersetzt. Immerhin aber lassen sich Teile von Camus’ Haltung zur politischen Befreiung Algeriens und seine auch darin begründete Nähe zum Anarchismus in dem jetzt erscheinenden, von Lou Marin herausgegebenen Band „Libertäre Schriften“ nachlesen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott