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Neue Bücher im HerbstMax Frisch ist out

Die neuen Romane von Rainald Goetz, Stephan Thome und Nora Bossong laden kein bisschen zur Identifikation mit der Hauptfigur ein. Findet eine literarische Verschiebung statt?

Eine neue Generation von Büchern: Jetzt muss sich der Leser nicht mehr mit der Außenseiterhauptfigur identifizieren. Bild: micjan / photocase.com

Das wird ein richtig interessanter Literaturherbst. Nicht nur kommen jetzt im August und dann im September eine ganze Reihe ambitioniert entworfener und sorgfältig umgesetzter deutschsprachiger Romane heraus. Diese Romane können einem darüber hinaus auch prinzipiell zu denken geben.

So kommt man mit der schlichten Entgegensetzung von literarischem Kunstanspruch und realistischem Erzählenwollen, in der es sich viele ältere Literaturkritiker ziemlich bequem gemacht haben, bei den demnächst erscheinenden Romanen nun wirklich nicht mehr weiter.

Thematisch geht es oft darum, Lebensläufe erzählbar zu machen. So schildert Stephan Thome in „Fliehkräfte“ die gewundene Biografie eines 60-jährigen Philosophieprofessors; zu liberal, um bei den 68er-Kadern mitzumachen, karrieremäßig letztlich in Bonn und nicht, wie gewünscht, im quirligen Berlin gelandet, inzwischen meist allein in einem Bonner Eigenheim lebend, weil die Frau sich noch einmal beruflich an einem Berliner Theater als Dramaturgin ausprobieren möchte und es die Tochter zum Spanischlernen nach Saragossa verschlagen hat.

Rainald Goetz bringt in „Johann Holtrop“ den rasend schnellen Auf- und ganz allmählichen Abstieg eines Medienmanagers sprachlich zum Schillern. Und Ulf Erdmann Ziegler erzählt in „Nichts Weißes“ von den Lehr- und Wanderjahren einer Schriftdesignerin, die es von der Kunsthochschule in Kassel aus nach Paris verschlägt. (Alle drei Romane erscheinen bei Suhrkamp; „Fliehkräfte“ und „Johann Holtrup“ im September, „Nichts Weißes“ in diesen Tagen.)

Dreimal Gegenwart, immer anders

Leben werden besichtigt. Jeder dieser drei Romane ist für sich interessant und hoch reflektiert gemacht; eine wirklich großartige Erfahrung ist es aber, sie nacheinander (oder parallel) zu lesen. Man lernt grundverschiedene Möglichkeiten, Aspekte der Gegenwart zu beschreiben, kennen.

Stephan Thomes Erzählen ist an amerikanischen Mustern geschult, etwa an Richard Ford. Er interessiert sich dafür, wie ineinandergeschachtelt die Gegenwart ist, wie immer Vorgeschichten in sie einfließen, seien es soziale, erotische, berufliche oder familiäre.

Rainald Goetz dagegen legt einen Schwerpunkt auf die sozialen Funktionen der Sprache. Immer wieder schildert er Meetings und zunächst harmlose Small-Talk-Situationen, in denen Sprechen benutzt wird, um Hierarchien zu manifestieren oder Machtansprüche geltend zu machen. Und Goetz baut auch szenisch nach, wie Sprechen die Funktion erfüllt, die fachliche Inkompetenz von Entscheidungsträgern zu verschleiern – die durch Kommunikationsphrasen agierende Managerkaste, sie kommt bei ihm gar nicht gut weg.

Übrigens lohnt es sich, als bodenständiges Gegenstück zu „Johann Holtrup“ Nora Bossongs Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (Hanser, erscheint Ende August) zu lesen; sorgfältig recherchiert beschreibt Bossong die Probleme eines deutschen Familienunternehmens, eines Frotteeherstellers, in der globalisierten Weltwirtschaft und zugleich ihres letzten Erben und Firmenchefs.

Bild: taz

sonntaz

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Ulf Erdmann Ziegler probiert wieder etwas anderes. Er will mit seinem Erzählen nicht so sehr in das Bewusstsein der Figuren dringen wie Thome oder ihr Sprechen von innen aufsprengen, wie Goetz es versucht. Ziegler tritt eher von außen, über die Beschreibung von Dingen an sie heran. Thematisch wird das von seiner Hauptfigur wunderbar gespiegelt; Buchstaben nimmt sie zunächst nicht als Symbole für Sinnzusammenhänge wahr – in der Schule wird ihr sogar eine Leseschwäche attestiert –, sondern als Objekte, die gestaltet werden müssen.

Egozucker und Widerstandsbläschen

Man erfährt in „Nichts Weißes“ viel über ästhetische Verhältnisse und das Design unserer Alltagswelt. Es gibt viele Stellen mit furios gerafften Beschreibungen: „Paris ist keine Stadt, sondern eine Maschine. Der Motor brummt bei Tag und Nacht. Er betreibt den Stoffwechsel von Energien. Entzogen werden Artigkeit, Bescheidenheit und Mamastoffe, zugeführt werden Heldentropfen, Widerstandsbläschen, Egozucker.“

Das zum Anfang von Pariser Au-pair-Episoden ist schon toll. Und nebenbei schreibt Ziegler auch eine Entwicklungsgeschichte der alten Bundesrepublik. Noch in den siebziger Jahren musste bei der Werbestrategie von o.b. berücksichtigt werden, dass man Männern erst noch beibringen muss, was Tampons überhaupt sind.

Bei all ihren Unterschieden fällt bei diesen Romanen etwas auf: Sie sind allesamt um eine Hauptfigur herumgeschrieben, laden aber keineswegs zur Identifikation mit ihr ein. Thome, der doch empathischen Verfahren am nächsten kommt, nimmt seinen Professor vollkommen auseinander. Zieglers Buch strahlt etwas Kühles aus. Und Rainald Goetz findet an seinem Johann Holtrup kein einziges gutes Haar.

Zeichen für eine literarische Verschiebung

Dass gerade diese Distanz zur Zentralfigur zu so interessanten Ergebnissen führt, kann man geradezu als Zeichen für eine Verschiebung in der deutschsprachigen Literatur insgesamt nehmen. Der Außenseiter, mit dem man sich identifizieren kann, bildete schließlich über Jahrzehnte ihre wichtigste Basis – bei Max Frisch und Uwe Johnson und über die korrumpierten Idealisten Wolfgang Koeppens und die Waldgänger Peter Handkes bis hin zu den Gewissensdramatikerinnen bei Christa Wolf.

Auch wenn es immer auch Gegenromane gegeben hat: Als literarisches Grundmodell ist der Einzelne, an dessen Außenseiterschicksal der Leser identifikatorisch teilnimmt, bislang nicht abgelöst worden. Das scheint sich nun zu ändern. Goetz, Ziegler, Thome rechnen eher mit einem distanzierteren Lesen. Vielleicht verabschiedet sich die deutsche Literatur damit erst jetzt endgültig von ihrer Nachkriegsphase. Vielleicht ist ein innerliches Aufrichten an Außenseiterfiguren, die, wie gebrochen auch immer, stets auch als Vorbilder funktionierten, inzwischen nicht mehr nötig.

Spätestens an dieser Stelle muss man „Indigo“, den neuen Roman von Clemens J. Setz, hinzunehmen (auch Suhrkamp, September; ja, das wird ein literarischer Suhrkamp-Herbst!). „Indigo“ ist ein faszinierend unheimlicher Roman.

In einem groß angelegten literarischen Versuchsaufbau und mit dem Hyperrealismus von David Foster Wallace im weiteren Hintergrund seziert er menschliche Verhaltensweisen im Umgang mit Nähe. Empathie erscheint an einer Stelle geradezu als „seltsame Folge der evolutionären Hochzüchtung unser Denkkapazität“. Beim Lesen dieses Buches können wir ganz fremd auf uns Menschen gucken.

Die Außenseiterromane: Peters und Krechel

Kühle Erkundungen – das ist so etwas wie das heimliche Motto dieses Literaturherbstes. Zu ihm passen zwei weitere Romane, die nun herauskommen. Der eine heißt „Wir in Kahlenbeck“ und stammt von Christoph Peters (Luchterhand, Ende August). Der hätte ein idealtypischer Außenseiterroman werden können; er spielt in den siebziger Jahren in einem katholischen Internat; da wurden Außenseiter bekanntlich gezüchtet.

Stattdessen ist es eine leicht spröde, dafür eingehende und sprachlich souveräne Studie über religiöse Bewusstseinsstrukturen geworden, die noch vor ein, zwei Generationen in der gesamten Gesellschaft herrschten: Die Internatsaufseher predigen noch von der Höllenstrafe für Onanie, seitenlang diskutieren altkluge Schüler über theologische Spitzfindigkeiten, und aus dem Lautsprecher im Nebenzimmer dröhnt schon Frank Zappas „Titties and beer“.

Also auch ein Roman über Lebensläufe. Das Nebeneinander von knallhartem Konservatismus und hedonistischer Popkultur prägte die Bundesrepublik länger, als man heute oft wahrhaben will.

Der zweite Roman stammt von Ursula Krechel. In „Landgericht“ (Jung und Jung, 20. August) erzählt die Autorin von einem von den Nazis ins kubanische Exil gezwungenen Richter, von seinen immer wieder auf Hindernisse stoßenden Versuchen, sich in die bundesrepublikanische Gesellschaft wieder einzugliedern, und seinem lebenslangen Streben nach Wiedergutmachung.

Auch das hätte ein auf Empörung abzielender Außenseiterroman werden können. Aber auch das ist eher eine Gesellschaftsstudie geworden, die gerade aufgrund ihrer Sprödigkeit fesselt. Gerade weil uns die Autoren die Lebensläufe ihrer Figuren in diesem Bücherherbst so in die Ferne rücken, kommen sie dem Leser so nahe.

Mit einer Ausnahme: Johann Holtrup, der Phrasenmanager, kann einem auch am Schluss des Buches endgültig gestohlen bleiben.

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2 Kommentare

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  • AR
    Antoninus R.

    Ja, Peters ist wohl ein starker Insiderroman, mit hochgezüchteten, nicht immer realen Internatsbezügen. Kein Allerweltslesestoff.

    Ich erkenne zwar als ebenso "Kahlenbecker" alle Realorte, erlebe aber theol. Spiegelfechtereien als schreibtechnische Aquarienzüchtungen.

  • VD
    valeria damiroxa

    Aber Max Frisch hatte in "Homo Faber" die vier interessantesten Seiten fuer den Turisten ueber Havanna in den 1950ziger geschrieben: "Alles wie verrueckt! Wenn man nur noch einmal leben koennte... " Dann mehrere Seiten in welchen er zwischen den Cubanos und den "Americans" vergleicht: Einmalig!