Neue Biographie über Hannah Arendt: Nach der Flucht
Thomas Meyer zieht in seiner Biografie von Hannah Arendt bislang unbekanntes Archivmaterial heran, um ihr Denken und ihre Erfahrung zu verbinden.
Seit das umfangreiche Standardwerk von Elisabeth Young-Bruehl über Hannah Arendt 1986 auf Deutsch erschienen ist, reißt der Strom an Veröffentlichungen nicht ab: Bücher über sie, Einzelveröffentlichungen der Autorin, vor allem aber ihre Korrespondenz mit Karl Jaspers, Martin Heidegger, Mary McCarthy, um nur die wichtigsten Briefpartner zu nennen. Die Forschung ist ausgeufert, was daran liegt, dass Hannah Arendt in der Publikumsgunst Klassikerstatus erlangt hat.
An ihren zum Teil nicht gerade leicht zugänglichen politischen Texten wie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ oder ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, das immer noch für Kontroversen gut ist, wenn es um die Rolle der Judenräte oder um die Rolle Eichmanns geht, dürfte das kaum liegen.
Vermutlich hat das eher mit ihren philosophischen Büchern zu tun, denn bei Titeln, die „Vom Leben des Geistes“, „Vom tätigen Leben“ und „Denken ohne Geländer“ heißen, kann man zweifellos mit einem größeren Zuspruch bei den Lesern rechnen.
Unbekannte Briefe und Texte Arendts
Nun hat der Herausgeber der Arendt-Studienausgabe, Thomas Meyer, die nicht einfache Aufgabe übernommen, nach über 40 Jahren eine neue Biografie Arendts zu verfassen, ohne die bereits vorliegende lediglich neu zu schreiben. Nach zweijähriger Archivrecherche in zahlreichen Ländern fand Meyer unbekannte Briefe und Texte, aber auch Dokumente, die in der Arendt-Forschung bislang vernachlässigt wurden.
Damit versucht Meyer, einige der blinden Flecken in der Biografie zu beleuchten. Er konzentriert sich dabei vor allem auf zwei Lebensphasen Arendts, über die bis heute relativ wenig bekannt war, und zwar Arendts Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die ersten Jahre in New York bis 1951, als ihr Hauptwerk „The Origins of Totalitarianism“ erschien.
Thomas Meyer: „Hannah Arendt. Die Biografie“. Piper Verlag, München 2023, 528 Seiten, 28 Euro
Die vorgezeichnete wissenschaftliche Karriere Arendts nahm zunächst einen völlig anderen Verlauf, als Martin Heidegger 1933 in Freiburg seine berühmte Rektoratsrede hielt, die als „Kampfrede“ gelobt wurde, in der „echtes Wissen“ aufscheine, weil er „Volk“, „Gemeinschaft“, „Tugend“ und dem „Sein“ die wahre Bedeutung beimesse. Heidegger hatte den Nationalsozialismus philosophisch geadelt.
Zur selben Zeit wurde Hannah Arendt, die bei Heidegger studiert und sogar eine Affäre mit ihm hatte, von Stefan Zweig und der Jüdischen Rundschau beauftragt, die Presse nach antisemitischen Äußerungen zu durchforsten. Kurz darauf wurde sie festgenommen, und es ist nur einem glücklichen Umstand zu verdanken, dass sie nach einem Tag wieder freigelassen wurde.
Heidegger und das völkische Denken
Größer also könnte der Graben zwischen Arendt und Heidegger nicht sein, und auch wenn Meyer im Laufe des Buches auf einige Belege hinweist, die das Unbehagen Arendts gegenüber Heidegger deutlich machen, so wird es wohl auf ewig ein Rätsel bleiben, warum Arendt in der Lage war, die Person Heidegger von ihrem völkischen Denken zu trennen und davon auszugehen, dass seine Philosophie unschuldig sei, obwohl kein anderer philosophischer Entwurf so eng mit dem zusammenging, was man als das Leben selbst bezeichnen könnte.
Auch wenn das nicht zentral im Buch verhandelt wird, spielt das letztlich unbewältigte und merkwürdige Verhältnis zwischen den beiden immer wieder eine Rolle.
In Paris versucht Arendt zunächst, ihre wissenschaftliche Arbeit über Rahel Varnhagen voranzutreiben, indem sie mit einem bislang unbekannten Empfehlungsschreiben von Stefan Zweig bei jüdischen Stiftungen Förderungsanträge stellt. Aber es war klar, dass dies nicht die Zeiten waren, um im stillen Kämmerlein über philosophische Fragen zu brüten.
Kinderverschickung nach Palästina
Ausführlich beschreibt Meyer nun die Lage in Frankreich, wo die Flüchtlingsströme kein Ende nahmen und das Elend vor allem der ohne Begleitung eintreffenden Kinder und Jugendlichen immer größer wurde. Es war für Arendt ein Gebot schlichter Menschlichkeit, sich um diese verlorenen Kinder zu kümmern und ihnen, wenn möglich, eine Perspektive zu bieten, das heißt, sie nach Palästina zu verschicken, wo sie in landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten unterkommen sollten.
Da die französischen Juden jedoch häufig antizionistisch eingestellt waren, ging es auch darum, potenzielle Unterstützer zu überzeugen. Typisch dafür die von Meyer herangezogene Zeitschrift Cahier Juifs, die im September 1933 mit einem Vorwort von Albert Einstein unter dem Titel „Der Beitrag der Juden Deutschlands zur deutschen Zivilisation“ erschien, um mit dem Argument der Bildung die Lage zu verbessern, die doch so ausweglos war.
Denn die Zahl der geflüchteten Juden war 1935 auf 260.000 angestiegen und die französischen Behörden machten keine Anstalten, ihnen einen rechtlichen Status einzuräumen. Wie konkret Arendt in der Jugend Alijah involviert war und worin genau die Arbeit bestand, als sie mit elf Jugendlichen über Marseille nach Palästina reiste, darüber erfährt man viele neue und aufregende Details.
Im Nachhinein erweist es sich für die Nachwelt als Glücksfall, dass Hannah Arendt in dieser praktischen Arbeit Erkenntnisse und Erfahrungen sammelte, die später in ihr bahnbrechendes Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ und in zahlreiche wichtige Studien über Rassismus und Antisemitismus eingingen.
Motive ihres Schreibens
Und genau über den Hintergrund ihrer klarsichtigen Essays liefert Thomas Meyer immer wieder spannende Hinweise und deutet die Motive ihres Schreibens mit einem ungeheuren Wissenshintergrund, denn ihre Artikel entstanden immer aus Diskussionen heraus, die in den Kreisen, in denen sich Arendt bewegte, mehr oder weniger hitzig geführt wurden.
Es ist dabei sehr erhellend nachzuvollziehen, wie aus dem „Juden als Paria“, über den sie schrieb und der Arendt selbst war, ein in New Yorker Intellektuellenkreisen leuchtender Fixstern wurde, der mit „Eichmann in Jerusalem“ eine der größten Debatten des letzten Jahrhunderts auslöste.
Dem Philosophen Thomas Meyer ist ein großartiges Buch gelungen, das unbedingt lesenswert ist, wenn man die einzelnen Schritte verfolgen will, die Hannah Arendt auf ihrem Weg zu einer der bedeutendsten Intellektuellen zurückgelegt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku