Kunst in Kriegszeiten

Von Mariupol nach Berlin: Mit dem „Hotel Continental – Art Space in Exile“ hat die Regisseurin Christine Dissmann in einer alten Fabrik in Treptow eine Plattform für Begegnungen von und mit ukrainischen und belarussischen Künst­le­r*in­nen eröffnet

Christine Dissmann ist optimistisch, dass die Produktion eines Tages auch in die Ukraine reisen kann

Von Tom Mustroph

Neues Leben ist in die alte Pianofabrik in der Treptower Elsenstraße eingekehrt. Die Regenbogenfahne mit der Aufschrift „Pace“ ist an der Wand befestigt. Ein Plakat fordert auf: „Make Art, Not War“. Denn die Pianofabrik ist jetzt ein „Kunstort im Exil“ – nachdem sie bisher schon so viel anderes war: ein Sägewerk, eine, wie es offiziell hieß, „Lehr- und Beschäftigungswerkstatt für Kriegsbeschädigte, Kriegshinterbliebene und andere Erwerbsbeschränkte“, eine Damenhutfabrik und eine Produktionsstätte für Registrierkassen. Und jetzt eben eine Stätte für Kunst. „Art Space in Exile“ nennt sie sich, und auch die goldene Aufschrift „Hotel Continental“ ist zu lesen. Das bezieht sich auf ein ehemaliges Hotel in Mariupol in der Ukraine, das über viele Jahre ein Kunst- und Kulturzentrum war und das im März 2022 während des Krieges ausbrannte.

Hier in Berlin möchte die Regisseurin Christine Dissmann, die selbst vergangenes Jahr noch im „Hotel Continental“ in Mariupol im Rahmen des „Marathons Internationaler Theaterresidenzen“ arbeitete, eine Arbeitsstätte für Künst­le­r*in­nen und einen Begegnungs- und Aufführungsort schaffen, der den Geist des „Continental“ weiterträgt und zugleich ganz real daran erinnert, was alles verloren ging im Krieg. „Wir wollen eine Plattform der Begegnung herstellen“, erzählt Dissmann der taz. „Wir haben dazu etwa 1.000 Quadratmeter Innenraum zur Verfügung. Und wir können auch den Außenraum nutzen.“

Einige Künst­le­r*in­nen haben bereits eingecheckt im neuen Hotel Continental. Eine kompakte Großskulptur des Bildhauers Oleksii Zoloratiov steht im Hof und wird von ihm weiterbearbeitet. Die goldene Färbung, die die Metallskulptur einmal hatte, wird jetzt durch eine blaue Patina verdrängt, sodass sich die Farben der Ukraine hervorschälen. Einen der Innenräume wird die bildende Künstlerin und Kuratorin Darya Koltsowa nutzen, die bereits 2014 mit der Installation „Theory of Protection“ auffiel. Sie entwickelte kunstvolle Arrangements aus Klebeband auf Fensterglas. Das greift die Praxis auf, Glas vor dem Zerspringen durch die Erschütterungen durch Bombardements zu schützen.

Natürlich ist der aktuelle Krieg in vielen Details präsent. Ganz deutlich in den Bildern von bewaffneten Frauen aus dem Donbass des tschechischen Fotografen David Tesinsky. Die belarussische Initiative Razam hat sie zur Eröffnung des neuen Hotels Continental, die vergangenen Freitag stattfand, zu einer Ausstellung arrangiert.

Überhaupt fällt in diesem neuen Hotel Continental die Nähe von Ukraine und Belarus auf. Neben vielen Texttafeln in den ukrainischen Farben Blau und Gelb befindet sich auch die weißrote Fahne der Protestbewegung von Belarus. „Wir haben uns entschieden, sowohl Künst­le­r*in­nen aus der Ukraine als auch aus Belarus anzusprechen“, sagt Dissmann der taz. „Die haben es oft noch schwerer, hier in Deutschland Fuß zu fassen. Wenn sie ihr Land verlassen, bekommen sie ja nicht gerade ein Dokument in die Hand gedrückt, dass sie verfolgt wurden“, meint sie trocken.

Auslöser für Dissmanns Initiative waren ihre eigenen Arbeitserfahrungen vor dem Krieg in der Ukraine. „Ich war längere Zeit in Mariupol. Einmal mit meiner Gruppe Ogalala Theater. Das andere Mal hatte ich als Regisseurin eine Residenz“, erzählt sie. Gemeinsam mit zwei Theatergruppen in Kiew sowie Studierenden der dortigen Kunstschule erarbeitete sie die Produktion „InBetween Times“. „Es ging um das Leben in Mariupol, darum, was sich diese jungen Künst­le­r*in­nen als Zukunft vorstellten. Sie wollten dabei als Menschen wahrgenommen werden ohne den Stempel des Krieges. Mich hat ihr Schaffensdrang überwältigt, ihre Energie. Und ich habe auch erfahren, wie differenziert sie ihre Chancen eingeschätzt haben, das Leben, das sie wollen, auch führen zu können. Die Frage, bleiben zu wollen oder zu gehen, tauchte immer wieder auf.“

„InBetweenTimes“ war ein Stück über diese Suche. Das damalige Ensemble ist inzwischen über halb Europa verstreut, einige leben in Polen oder Deutschland, andere mussten nach Russland flüchten oder leben in den russisch kontrollierten Gebieten. Eine Präsentation dieser Arbeit in Berlin ist eben nicht möglich, daher entwickelt Dissmann nun ein neues Projekt. Für „InBetweenFires“ hat sich ein Ensemble aus nach Berlin geflüchteten Schau­spie­le­r*in­nen aus der Ukraine und Belarus sowie Spie­le­r*in­nen aus Dissmanns Gruppe Ogalala, die selbst bereits in der Ukraine aufgetreten sind, zusammengefunden.

Bei ersten Improvisationen in der früheren Pianofabrik schlüpften die Spie­le­r*in­nen in die Figuren von Tieren und drückten physisch aus, wie diese den Krieg erleben. Man sah Katzen und Hunde, die teils irritiert und teils erfreut sind, dass ihre menschlichen Herrchen nicht mehr da sind. Manche beginnen, die neuen Freiheiten auszukosten. Andere sind durch die Geräusche des Kriegs, der näher kommt, verängstigt. Auf Nahrungssuche nähern sie sich getöteten Lebewesen aller Art, schnuppern und nagen. Und ja, auch Menschenfleisch ist darunter.

Welche Sequenzen später in das Stück kommen, war zum Zeitpunkt des Probenbesuchs noch unklar, die Premiere ist für den 28. Juli geplant. Aber die schnell hingeworfenen Skizzen haben große Kraft. Und für die Spie­le­r*in­nen stellt dies trotz allen erlebten Schreckens eine Form der Auseinandersetzung dar, die sie schätzen. „Es ist gut, dass wir jetzt diese Möglichkeit haben. Mitten im Krieg ist man wie erstarrt, es fällt sehr schwer, das Erlebte zu reflektieren“, erzählt Iryna Poplavska, die aus Kiew kommt. „Für uns ist das eine gute Gelegenheit, überhaupt unsere Geschichten zu erzählen, sie zu teilen“, sagt Anna Mrachkovska aus Wynniza. Valeriia Kuzmenko, die aus Irpin stammt, begrüßt es vor allem, dass sie die „länger nicht gebrauchten Muskeln, die fürs Theaterspielen notwendig sind, wieder einsetzen kann“.

Zurück in den Beruf zu kommen, den die meisten von ihnen seit Kriegsbeginn nicht mehr ausgeübt haben, ist nicht nur erleichternd und Freude bringend. Es wird auch eine Basis gelegt für eine neue Existenz.

Für das ganze Ensemble ist wichtig, dass in den Zeiten der Gewöhnung an den Krieg die Kunst wieder aufrütteln und erschüttern kann. Dissmann ist optimistisch, dass die Produktion eines Tages auch in die Ukraine reisen kann. Sie hält Kontakt zum weiter in Kiew lebenden Kurator Andrii Palatnyi, der die Residenz organisierte, dank der sie in Mariupol arbeitete. Sie plant auch Gastspiele von Künst­le­r*in­nen aus dem Umfeld des Kiewer Dakh Teatr und des ProEnglish Theatre. Diese einzige englischsprachige Theatergruppe aus Kiew wurde dadurch bekannt, dass sie während der Bombardements der Stadt ihre Räume als Luftschutzbunker zur Verfügung stellte. „Sie probten während der Bombardements auch weiter. Das dabei entstandene Stück wollen wir nach Berlin bringen“, erzählt Dissmann.

Der „Art Space in Exile“ in der Elsenstraße 87 ist vor allem ein Produktionsort für Kunst. Daher offen für Publikum täglich nur von 14 bis 18 Uhr