Neue Aktionen gegen Einsamkeit im Norden: Einsamkeit soll aus der Tabuzone
Einsamkeitsbeauftragte wie in Berlin gibt es im Norden noch nicht. Wohl aber ein neues Bündnis in Hamburg und eine städtische Kampagne in Hannover.
Es ist ein komplexes Phänomen, dem sich die Bundesregierung in ihrer Ende 2023 beschlossenen Strategie gegen Einsamkeit widmet, wissenschaftlich unterfüttert durch das 2024 veröffentliche „Einsamkeitsbarometer“. Betroffen sind demnach stark, aber nicht nur, die Älteren, die qua Bevölkerungspyramide zahlreicher werden und denen die Freunde wegsterben. Einsamkeit spüren auch viele Jüngere, die Hunderte virtuelle, aber kaum physische Freundschaften haben. Auch Care-Arbeitende sind gefährdet – jene oft rund um die Uhr privat Pflegenden, denen mangels Zeit die Freundschaften abhanden kommen.
All das hat Folgen: Einsame Menschen haben laut „Einsamkeitsbarometer“ weniger Vertrauen in politische Institutionen und sind anfälliger für Verschwörungsideen. Neben der – wissenschaftlich erwiesenen – Gesundheitsgefährdung samt höherem Sterberisiko gibt es also auch politische Gründe, der Vereinsamung entgegenzuwirken. Das Problem dabei: Trotz zunehmender öffentlicher Debatte bleibt Einsamkeit ein schambesetztes Tabu, gilt als irgendwie selbst verschuldet. Dabei fallen tragfähige soziale Beziehungen nicht vom Himmel, und ihr (Neu-)Aufbau erfordert Mut, Geschick und Geduld.
Um den Betroffenen als Staat und als Zivilgesellschaft die Hand zu reichen, hat Berlin – als bislang einzige Kommune – Anfang 2024 eine Einsamkeitsbeauftragte ernannt. Auch Wohnungsbaugenossenschaften, naturgemäß auch mit dem Gestalten von Nachbarschaft befasst, widmen sich dem Thema, wie etwa der Lotse der Erfurter „Wohnungsbaugenossenschaft Einheit eG“ (taz berichtete).
Hamburg hat ein Bündnis gegen Einsamkeit
Nordrhein-Westfalen hat, basierend auf einer Ende 2023 präsentierten Einsamkeitsstudie, die Einsamkeitshotline „Silbertelefon“ und eine Onlineplattform initiiert. Und nun, etwas verspätet, bewegt sich auch im Norden etwas: Die „Bergedorf-Bille-Stiftung“, 1998 gegründet zur sozialen Integration von Menschen und Mitgründerin des Arbeitskreises der Stiftungen der Hamburger Wohnungsbaugenossenschaften, bietet seit vielen Jahren Nachbarschaftstreffs an. Mitte 2024 hat sie zudem ein Bündnis gegen Einsamkeit gegründet und vor einigen Wochen eine Projektreferentin eingestellt.
Möglich wurde dies durch Spenden des Hamburger Freundeskreises Oberaltenallee, eines 1979 gegründeten Nachbarschaftsvereins, der laut Satzung zum Ziel hat, „die Lebensqualität älterer, auf Pflege und Betreuung angewiesener Menschen zu verbessern“. Diese Finanzspritze reiche für ein Jahr, sagt Geschäftsführerin Cornelia Springer-Fouad; danach wolle man, finanziert aus Geld der Bergedorf-Bille-Stiftung sowie einzuwerbenden Mitteln, Bündnis und Stelle verstetigen.
An Gemeinschaft stiftenden Angeboten mangele es zwar nicht. Wohl aber an Kooperation und Koordination; teils wisse man nicht voneinander. Deshalb werde man nun alle an einen Tisch bringen, um ein Netzwerk aus Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, Vereinen, Wohnungsbaugenossenschaften, den Bücherhallen, gern auch kleinen Akteuren wie Cafés und Buchläden zu bilden.
Denn es gehe um weitere niedrigschwellige, also kostenfreie Angebote, etwa für Kulturveranstaltungen.„Theater könnten sich als Charitybeitrag auf die Fahnen schreiben, auch für diese benachteilige Gruppe kostenlose Tickets anzubieten“, sagt Springer-Fouad. Man werde also einerseits bündeln, was schon da sei, und es Anfang 2025 in einer „Kick-off“-Veranstaltung öffentlich präsentieren. Anderseits wolle man weitere Akteure werben. „Dazu zählen auch Ehrenamtliche, die Besuchs- oder Abholdienste übernehmen oder Menschen zu Veranstaltungen begleiten.“
Einen ersten Workshop, um hierfür zu motivieren, bietet die Bergedorf-Bille-Stiftung am 19. Oktober an. Zusätzlich brauche man – neben der Bündelung der Angebote und deren Bewerbung – eine Einsamkeits-Telefonhotline wie in NRW, sagt Springer-Fouad. Das werde allerdings nicht ausschließlich mit Ehrenamtlichen funktionieren. „Und dann stellt sich die Frage: Liegt das in Trägerschaft der Zivilgesellschaft, der Wohlfahrtsverbände oder des Staates“, sagt Springer-Fouad. „Wünschenswert wäre zum Beispiel eine Einsamkeitsbeauftragte auch für Hamburg.“
Einen entsprechenden Bürgerschaftsantrag stellte die SPD-Fraktion bereits im August 2023. Wie weit die Planungen gediehen sind, verrät Hamburgs Sozialbehörde jetzt, ein Jahr später, aber noch nicht. „Wir sind aktuell dabei, hierzu eine Antwort vorzubereiten, der wir nicht vorgreifen wollen“, schreibt deren Sprecher.
Die Frage, wie man von Einsamkeit bedrohte Menschen erkennt und erreicht, treibt auch Andrea Töllner um, Leiterin des Kommunalen Seniorenservices der Stadt Hannover. Sie hat die im November geplante Kampagne „Wir sind da. Mach mit. Gemeinsam gegen Einsamkeit in Hannover“ initiiert, die speziell Senioren in den Blick nimmt. Sozialarbeiterinnen hätten in den Vierteln beobachtet, dass auch die Älteren seit Corona immer seltener Vor-Ort-Angebote aufsuchten.
„Wir dachten also: Wir müssen präsenter werden, besser informieren, Menschen ansprechen, die von Einsamkeit bedroht sein könnten, und dazu ist die Kampagne ein Schritt.“ Also habe man sich mit Wohlfahrts- und Sozialverbänden zusammengetan, um zwei Wochen lang auf verschiedenen Wegen – sei es online, sei es mit Papier-Handouts – für Angebote im Stadtteil zu werben. „Unsere Mitarbeiterinnen gehen dorthin, wo Menschen, die nur noch selten ihre Wohnung verlassen, noch auftauchen: in die Apotheke, zum Supermarkt, zum Wochenmarkt. Dann kommen sie ins Gespräch, erwähnen die Angebote, und dann merkt man ja schnell, ob jemand interessiert ist“, sagt sie.
Workshop der Bergedorf-Bille-Stiftung „So geht Engagement in der Nachbarschaft. Gemeinsam gegen Einsamkeit“: 19. 10.,15 – 17 Uhr. Anmeldung gerne erwünscht unter stiftung@bergedorf-bille.de
Kampagne „Wir sind da. Mach mit. Gemeinsam gegen Einsamkeit in Hannover“: 4. – 18. 11. Info unter wirsindda-hannover.de
Mit dem ambivalenten Wort „Einsamkeit“ gehe man da natürlich sensibel um. „Aber im Kampagnen-Slogan haben wir es erwähnt, um klarzustellen, worum es geht. Schließlich wollen wir das Thema auch in Hannover aus der Tabuzone holen.“
Eine Einsamkeitsbeauftragte brauche man dafür allerdings nicht. „Dieses Thema ist – je nach avisierter Betroffenengruppe – in Hannover in den jeweiligen Fachbereichen der Sozialbehörde sehr gut aufgehoben.“ Das niedersächsische Sozialministerium ließ die Frage nach einer Einsamkeitsbeauftragten bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund