Netzphilosophie

■ "Telepolis", eine Zeitschrift für die gebildeten Online- Stände, bedient das anhaltende Bedürfnis nach Gedrucktem

In den letzten drei Monaten sind an den deutschen Kiosken mindestens zehn neue Zeitschriften aufgetaucht, die sich mit dem Internet beschäftigen. Die meisten sind entweder technische Spezialisten-Magazine oder hastig zusammengestoppelte Heftchen, die bei dem endlich auch in Deutschland ausgebrochenen Internet-Hype absahnen wollen. Jetzt ist noch eine neue Internet-Zeitschrift hinzugekommen. Telepolis. Die „Zeitschrift der Netzkultur“ (Untertitel) gehört zum „Genre der intellektuell ambitionierten Zeitschrift“, wie es im Vorwort der Nullnummer heißt. Das Blatt, das in Format und Gestaltung an Magazine wie Texte zur Kunst oder Die Beute erinnert und das über den Buchhandel vertrieben wird, will „die Digitalisierung unserer Lebenswelten in allen ihren Aspekten und künftigen Entwicklungen“ analysieren.

Das ist auch höchste Zeit. In Deutschland fehlt ein Organ, das sich intellektuell-kritisch mit dem Internet auseinandersetzt. Eine deutsche Version der amerikanischen Netz-Zeitschrift Wired ist gerade an unvereinbaren Vorstellungen über das Blattkonzept der Amerikaner und ihrer deutschen Partner Gruner+Jahr und dem Spiegel-Verlag gescheitert. Und die übrigen deutschen Internetzeitschriften liefern entweder UNIX-Tips für Programmierer oder kommentierte Listen von World-Wide-Web-Adressen.

Die Nullnummer von Telepolis enthält einige Texte, die schon jetzt als Klassiker der neuen Disziplin der „Netzphilosophie“ gelten können: John Perry Barlows „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“, den sogenannten Anti- Barlow von Geert Lovink und Pit Schultz und den Aufsatz über „Die kalifornische Ideologie“ von Richard Barbrook und Andy Cameron. Viele der Texte in der Nullnummer sind dem gutinformierten Internauten lange bekannt und auf vielen Festplatten und Internet- Servern gespeichert. Doch anscheinend gibt es immer noch ein Bedürfnis nach Texten, die man auf Papier „schwarz auf weiß nach Hause tragen kann“. Und offenbar ist das beste Medium für längere, reflektierende Texte immer noch eine gedruckte Publikation. Auch die Zeit der redaktionellen „Filter“, die aus dem unendlichen Strom der Botschaften und Texte im Netz das Interessanteste und Wichtigste heraussieben, scheint noch nicht vorbeizusein, obwohl von Internet-Euphorikern gern das Gegenteil behauptet wird.

Telepolis entstand aus einer Ausstellung, die Ende 1995 in Luxemburg stattfand. Die Schau, die sich (mit finanzieller Unterstützung von der Telekom und Burdas inzwischen untergegangenem Online-Dienst „Europe Online“) mit der Zukunft der Stadt im Zeitalter der internationalen Computervernetzung und Globalisierung befaßte, wurde von Florian Rötzer organisiert. Rötzer veröffentlichte anschließend einen Reader zum Thema beim Bollmann-Verlag, der jetzt auch die Printversion von Telepolis herausgibt. Anfang 1996 startete Rötzer unter dem Telepolis-Logo ein Web-Zine – eine Zeitschrift, die nur im Internet abgerufen werden kann (www.heise.de/ tp).

Die Online-Ausgabe von Telepolis wird von dem Münchner Fachverlag Heise gemacht, der vor allem Computerzeitschriften wie c't und Chip herausgibt. Im Gegensatz dazu hat sich der Bollmann- verlag, der die Printversion von Telepolis produziert, auf die intellektuell-philosophische Auseinandersetzung mit den neuen Medien spezialisiert. Außer einer Gesamtausgabe der Werke des Medienphilosophen Vilém Flusser hat der Mannheimer Verlag unter anderem ein „Kursbuch Neue Medien“, ein „Kursbuch Internet“ und zwei Bücher der holländischen „Datendandys“ von der Agentur Bilwet herausgegeben.

Doch so erfreulich es ist, daß es in Deutschland endlich eine Zeitschrift für die gebildeten Online- Stände gibt, Telepolis muß aufpassen, daß es nicht dem deutschen Hang zum folgenlosen Räsonieren zum Opfer fällt, eine Gefahr, die sich in der Nullnummer andeutet. In der gibt es zwar einige lange akademische Texte zur Cyberkultur. Doch das wichtigste Internet- Politikum, das es in Deutschland in der letzten Zeit gegeben hat, kommt nur am Rande vor: die versuchte Zensur des Servers des holländischen Internet-Providers XS4all durch die Bundesstaatsanwaltschaft. Auch das verfassungswidrige Telekommunikationsgesetz, das gerade vom Bundestag verabschiedet worden ist, wird nur in einem kurzen Artikel behandelt. Es wäre bedauerlich, wenn Telepolis über der philosophisch-theoretischen Auseinandersetzung mit dem Internet die politische Netzrealität aus den Augen verlieren würde. Tilman Baumgärtel

Die Nullnummer von Telepolis gibt es für 10 DM im Buchhandel; die nächste Ausgabe zum Thema künstliches Leben soll im März 1997 erscheinen.