Netflix-Serie über Colonia Dignidad: Der große Menschenversuch
Die Netflix-Serie „Colonia Dignidad – Eine deutsche Sekte in Chile“ ist ein Lehrstück über ein totalitäres Regime. Sie zeichnet ein erstaunlich umfassendes Bild.
Es ist eine Geschichte, in der es um eine Sekte, einen Staatsstreich, jahrzehntelangen Kindesmissbrauch, zwei tollkühne Fluchten, eine ungewöhnliche Liebe und eine spannende Verbrecherjagd geht. Aber man kann „Colonia Dignidad: Eine deutsche Sekte in Chile“ auch als ein Lehrstück über ein lange erfolgreiches totalitäres System sehen. Eine tiefere, ernsthafte Version der Dokuserie „How to become a Tyrant“. Und man kann beide nun auch direkt miteinander vergleichen, denn sie laufen auf Netflix.
In sechs etwa 50 Minuten langen Episoden erzählen Wilfried Huismann und Annette Baumeister hier von der Sekte „Colonia Dignidad“, die sich in den 1960er Jahren im Hinterland von Chile angesiedelt hat und dort bald eine erstaunliche Macht als Staat im Staat ausübte. Der Gründer war der Prediger Paul Schäfer, der damals aus Deutschland verschwinden musste, weil es dort gegen ihn einen Haftbefehl wegen Kindesmissbrauchs gab. In Chile gelang ihm dann ein großer Menschenversuch, indem er seine Anhänger*innen, die ihm aus Deutschland gefolgt waren, so erfolgreich indoktrinierte, dass sie ihm ihre Kinder überließen, an denen er sich dann jahrzehntelang vergehen konnte.
Die Geschichte ist schon oft erzählt worden. Etwa in dem Spielfilm „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ mit Emma Watson und Daniel Brühl (der nun in der Serie einen Hauptprotagonisten synchronisiert). Doch Huismann und Baumeister fanden einen neuen Zugang, der es ihnen ermöglicht, so komplex und lebendig wie noch nie von der Sekte zu erzählen. Zum einen konnten sie mit den Film- und Tonaufnahmen arbeiten, die Schäfer selber seit 1958 von verschiedenen Kameramännern machen ließ. Sie drehten viele Propagandafilme, mit denen Schäfer die Kolonie als ein paradiesisches Gottesland inszenierte, in dem Knabenchöre deutsche Lieder wie „Aber Heidschi Bumbeidschi“ singen.
„Colonia Dignidad – Eine deutsche Sekte in Chile“: 6 Folgen, Netflix.
Aber außergewöhnlich wird diese Serie durch die vielen Zeitzeug*innen, die im Film von ihren Erlebnissen erzählen. So entsteht ein erstaunlich umfassendes und nuanciertes Bild von der Colonia Dignidad. Denn es ist auch gelungen, damalige Täter wie einen Offizier von Pinochets Geheimdienst oder den Leiter einer chilenischen faschistischen Miliz vor die Kamera zu bringen. Vor allem sind es aber die Erzählungen der damals missbrauchten Kinder und Sektenangehörigen, durch die die Serie so außergewöhnlich lebendig wird.
Haarsträubende Geschichten
Da gibt es Helden wie jenen Jungen, der gleich zweimal aus der Colonia floh, weil er beim ersten Mal von der deutschen Botschaft zurückgebracht wurde. Oder den Chilenen, der sich gegen den Missbrauch wehrte und Schäfer schließlich zu Fall brachte. Am eindrucksvollsten ist aber ein älteres Ehepaar, das vertraut nebeneinander auf dem Sofa sitzt und mit liebevollem Blick zueinander haarsträubende Geschichten davon erzählt, wie Schäfer mit allen Mitteln ihre Liebe zueinander verhindern wollte.
Und hier fällt dann auch ein Satz, den sich kein(e) Autor(in) hätte ausdenken können: „Wir waren dreißig Jahre alt und wussten nicht nur nicht, wie man Kinder zeugt, sondern auch nicht, dass man sie überhaupt zeugen kann.“
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