: Neid auf Mandate
Bundesverfassungsgericht verhandelte über umstrittene Überhang- und Grundmandate ■ Aus Karlsruhe Christian Rath
Wahlrechtsfragen sind Machtfragen. Vor dem Bundesverfassungsgericht standen gestern zwei Regelungen des Bundeswahlgesetzes auf dem Prüfstand, die beide schon seit Jahrzehnten bestehen. Erst jetzt aber, als sie (wieder) eine größere Rolle spielten, wurde ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz in Zweifel gezogen. Die Zulässigkeit von Überhangmandaten hatte das SPD-Land Niedersachsen angefochten und die Grundmandateklausel 58 überwiegend konservative Staatsrechtslehrer.
Von politischen Interessen war in Karlsruhe allerdings nur wenig die Rede. So blieb unerwähnt, daß Helmut Kohl seine Wiederwahl nur den Überhangmandaten der CDU verdankte. Nach dem Wahlergebnis hätte die Regierungskoalition nämlich nur einen Vorsprung von zwei Mandaten gehabt, und bei der Kanzlerwahl mußte der Pfälzer auf drei Stimmen aus dem eigenen Lager verzichten. Nur durch 16 Überhangmandate (12 für die CDU, 4 für die SPD) kam eine annehmbare Regierungsmehrheit zustande. Statt dessen blieb Professor Hans Meyer, Präsident der Humboldt-Uni Berlin und Prozeßvertreter der niedersächsischen Regierung, eher auf der individuellen Ebene: „Es widerspricht einfach der Gleichheit der Wahl, daß die Wahlstimmen von über einer Million Menschen doppelt zählen.“
Diese 1,1 Millionen WählerInnen konnten nicht nur über ihre Zweitstimme die Sitzverteilung im Bundestag mitbestimmen. Als Verursacher der 16 Überhangmandate schlägt sich auch ihre Erststimme zahlenmäßig nieder. Karlsruhe muß nun entscheiden, ob die Überhangmandate verfassungsrechtlich akzeptabel sind. Das Grundgesetz spricht von der Gleichheit der Wahl, wenn jedoch für ein CDU-Mandat unter dem Strich 3.300 Stimmen weniger benötigt werden, dann kann man kaum noch von Gleichheit sprechen. 1988 entschied das Gericht, daß ein einzelnes Übrhangmandat gerade noch hinnehmbar sei, jetzt aber sind es sechzehn. Hans-Jürgen Papier, Rechtsprofessor aus München und Vertreter der Bundesregierung, versuchte ebenfalls, sich auf ein altes Verfassungsgerichtsurteil zu berufen. „In den 50er Jahren hat Karlsruhe sogar das Mehrheitswahlrecht für grundgesetzkonform erachtet.“ Sein Schluß: Wenn sogar das englische System in Deutschland eingeführt werden könnte, dann müssen auch Abweichungen vom strikten Verhältniswahlrecht möglich sein. „Gleichheit der Wahl“ heißt bei Papier lediglich „konsequente Anwendung des einmal gewählten Maßstabs“. Und in Deutschland bestehe eben eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht.
Am späten Nachmittag wollte sich das Gericht noch mit einer zweiten Klage beschäftigen. Der emeritierte Rechtsprofessor Werner Hoppe hatte gemeinsam mit 57 Kollegen die letzte Bundestagswahl angefochten. Sein Ziel: Die PDS soll nur ihre vier Direktmandate behalten, die übrigen 26 Mandate sollen verfallen, da die sogenannte „Grundmandateklausel“ verfassungswidrig sei.
Eine mutige Klage, denn in einem Urteil von 1957 hatten die Karlsruher Richter die Grundmandateklausel schon einmal geprüft und für akzeptabel befunden. Hoppe wirft dem Gesetzgeber und (damit auch dem Verfassungsgericht) vor, daß sie sich in einen unauflösbaren „Selbstwiderspruch“ gesetzt haben. Einerseits schlossen sie mit einer Sperrklausel Splitterparteien aus dem Bundestag aus, andererseits verschafften sie manchen von ihnen mit der Grundmandateklausel doch wieder Zugang. Diese Ungleichbehandlung kleiner Parteien verletze das Prinzip der „Erfolgsgleichheit“ der Wählerstimmen.
In den 50er Jahren wurde die Klausel tatsächlich für Manipulation mißbraucht. Die CDU verzichtete mehrfach zugunsten befreundeter kleiner Parteien auf eine Wahlkreiskandidatur und holte so treue Koalitionspartner durch die Hintertür ins Parlament. Nur der PDS läßt sich daraus sicher kein Strick drehen. Gregor Gysi in der Klageerwiderung: „Wahlabsprachen zugunsten der PDS können ausgeschlossen werden.“ Mit einem Urteil ist erst in einigen Monaten zu rechnen. Für den jetzigen Bundestag, so wird erwartet, wird das Urteil keine Folgen haben
Kommentar Seite 10
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