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Neblige Spuren und der Werdegang des Verdachts

■ Wallmann sagt morgen im Bonner Untersuchungsausschuß aus / Wer in den hektischen Januartagen des Hanauer Atomskandals die Fäden zog, ist immer noch im Dunkeln / Journalisten mehr Marionetten als Drahtzieher? / Skandal habe Ermittlungen geschadet

Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Ulrich Irmer ist sonst ein stilles, häufig abwesendes Mitglied im Bonner Untersuchungsausschuß. Der zierliche FDP–Mann fiel bisher nur einmal auf: als er wegen „des schönen Frühlingstags draußen“ einen Vertreter der Atombehörden vorzeitig aus dem Zeugenstand nach Hause entlassen wollte. Doch diesmal ist Ulrich Irmer wie ausgewechselt: vor Aufregung und Zorn läuft er hochrot an, bellt seine Fragen überlaut ins Tischmikrophon. Auf dem Zeugenstuhl erkennt er offenbar den Hauptübeltäter in diesem Skandal - den Journalisten Dieter Kassing, Herausgeber des Bonner Energiereport. Der flüsterte dem hessischen Umweltminister Weimar den bösen Verdacht ins Ohr und ließ die „Bombe von Hanau“ nach Bonn rollen. Ein Schreibtischtäter, der es nachher nicht gewesen sein will - das bringt einen Herrn Irmer in Wallung. Morgen und übermorgen wird es neuen Anlaß für rote Köpfe geben: Nacheinander werden vor dem Untersuchungsausschuß die fünf Politiker aufmarschieren, die an den ereignisreichen Tagen vor vier Monaten die Skandalsuppe mit unterschiedlichen Zutaten würzten: Wallmann, Weimar, Töpfer, Hauff und Joschka Fischer. Der Werdegang des „ungeheuerlichen Verdachts“, der das Begriffspaar „lückenlose Aufklärung“ zum Modewort des Jahres 1988 machte, ist nach diesen vier Monaten nahezu genauso im Dunkeln wie damals. Was die Journalisten über ihre Rolle in den Tagen zwischen dem 13. und 15. Januar aussagten, läßt die Erklärungen von Wallmann und Weimar mit Spannung erwarten. Wie entstand der Verdacht? Im Vorgespräch zu einem Interview über allgemeine Entsorgungsaspekte berichtet Dieter Kassing dem hessischen Umweltminister am 13. Januar, es gebe „mündliche Hinweise“, daß Transnuklear am Transport von hochaktivem Material aus Mol über Lübeck nach Pakistan beteiligt sei. Kassing: „Wir machten mehrfach deutlich, daß wir dafür keine Beweise hätten.“ Weimar reagiert anscheinend merkwürdig gespalten: zunächst gelassen (Kassing: „Ohne ein Zeichen des Erschreckens“), fragt nicht nach Belegen, akzeptiert die erbetene Vertraulichkeit, läßt durchblicken, daß ihm nun der Suizid zweier Atommanager plausibler sei und absolviert anschließend noch cool das Interwiew allgemeinen Inhalts. Wenig später große Aufgeregheit: Weimar stürzt zum Telefon, informiert die Staatsanwaltschaft und via Staatskanzlei den Ministerpräsidenten. Die Staasanwaltschaft nimmt nach Weimars Anruf zu Protokoll, daß der Verdacht „zu 90 Prozent recherchiert“ sei - eine Interpretation, die sich Kassing „nicht erklären kann“. Mit nichts als ein paar Journalistenandeutungen in der Hand informiert Wallmann am nächsten Tag die betroffenen Gesellschafter RWE und Degussa, spricht im Ausschuß den Proliferations–verdacht aus. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf, die Republik steht Kopf. Der französische Journalist Jean–Paul Dufour, der an diesem Tag nach Bonn kommt, um mit Kassing Informationen auszutauschen, findet sich „völlig verblüfft“ in einem „phantastischen Ereignis“ wieder. Auch Dufour hatte im französischen LExpress nur vage Andeutungen gemacht, verfügt nur über Spuren und „Teilfakten“, wie er dem Ausschuß sagt, auf die sich Kassing wiederum teilweise stützt. Der Franzose versucht,hinter den Kulissen des Trubels noch die Notbremse zu ziehen, teilt der Staats anwaltschaft mit, er sei „erstaunt“ und „betroffen“, welche Ausmaße die Angelegenheit in der Bundesrepublik angenommen habe. Angesichts der Fakten, die vorgelegen hätten, „schien mir die Reaktion der deutschen Behörden sehr übertrieben zu sein“, erinnert sich Dufour im Ausschuß. Aber er glaubt noch heute, „daß die Bundesregierung damals Informationen hatte, die ich nicht hatte“. Warum handelten erfahrene Politiker, bei Angriffen gegen die Atomindustrie sonst durchaus abgebrüht, in jenen Januartagen so hektisch und scheinbar kopflos? Wenn der Verdacht auf Bruch des Atomwaffensperrvertrags wirklich dem „Ansehen der Bundesrepublik massiv geschadet“ hat, wie die Altparteien unisono intonierten, müssen sich Wallmann und Weimar nun dafür rechtfertigen, die „Bombe“ öffentlich losgetreten zu haben. Diese Zwickmühle im Blick mühten sich die Parteifreunde im Ausschuß, den Wallmann–Auftritt auf eine möglichst medienungünstige Uhrzeit zu terminieren. Und Politiker, wie der aufgeregte Ulrich Irmer, versuchen, den Atomskandal zum Presseskandal umzumünzen: Die Verbreitung der Verdächtigungen durch die Journalisten sei „schlicht unverantwortlich“ gewesen. Nach dieser Theorie wären Wallmann und Weimar die rechtschaffenen Opfer skrupelloser Sensationsreporter. Es läßt sich aber auch in eine andere Richtung denken - daß nämlich die betroffenen Journalisten mehr Marionetten als Drahtzieher waren. In diese Richtung deutete der Franzose Dufour, erfahren in der Atomindustrie: „Die hohe Publizität damals hat den Ermittlungen geschadet.“ Es könne im Interesse einiger Leute sein, „Journalisten auf falsche Spuren zu schicken, um dadurch andere Dinge zuzudecken“. Haben vielleicht Wallmann und Weimar wirklich hoch gepokert, weil ihnen ganz andere, gravierendere Vefehlungen der Hanauer Betriebe bekannt waren? Fazit ist nach vier Monaten nur: Nichts ist „lückenlos aufgeklärt“, alle möglichen Spuren und „Teilfakten“ vernebeln den Blick. INTERVIEW

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