Nazim Hikmet kehrt heim: Staatsbürgerschaft post mortem
Er galt den türkischen Nationalisten als "Vaterlandsverräter" und starb 1963 im Moskauer Exil. Nun erhält der verfemte kommunistische Schriftsteller doch noch die türkische Staatsbürgerschaft zurück.
"Leben wie ein Baum, einsam und frei, und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Mit diesen Versen aus dem Gedicht "Davet" (Die Einladung), ist der größte türkische Lyriker des 20. Jahrhunderts, Nazim Hikmet, auch in Deutschland bekannt geworden. Lange war der Dichter, der mit "Menschenlandschaften" das berühmteste Epos über Anatolien schuf, in seiner Heimat verfemt, jetzt soll er offiziell rehabilitiert werden. Gestern beschloss das türkische Kabinett, ihm post mortem seine Staatsbürgerschaft zurückzugeben und die Rückkehr von Nazim Hikmets sterblichen Überresten in die Heimat zu ermöglichen.
Nazim Hikmets Leben spiegelt das Schicksal etlicher europäischer Intellektueller des 20. Jahrhunderts, die als Kommunisten verfolgt wurden. Hikmet, der in großbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs - sein Vater war Diplomat, sein Großvater, bei dem er als Kind hauptsächlich lebte, Gouverneur -, desertierte während der alliierten Besatzung Istanbuls 1918 von der Militärakademie und schloss sich den Truppen Atatürks im Unabhängigkeitskampf an. Anschließend bereiste er die Sowjetunion und wurde zum Kommunisten. 1924, kurz nach Gründung der türkischen Republik, wurde er Mitglied der illegalen kommunistischen Partei der Türkei. In dieser Zeit pflegte die junge türkische Republik zwar gute Kontakte zur Sowjetunion Lenins und Trotzkis, doch im Einparteienstaat Mustafa Kemal Atatürks war die TKP, wie alle anderen Parteien außer der Republikanischen Volkspartei, verboten.
Bereits als Jugendlicher hatte Hikmet Gedichte veröffentlicht, nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion revolutionierte er die türkische Lyrik, die bis dahin vom osmanisch-persischen Stil geprägt war. 1933 wurde er zum ersten Mal wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet und in Bursa für zwei Jahre ins Gefängnis gesperrt. In dieser Zeit schrieb er sein großes Werk "Scheich Bedreddin". Nur drei Jahre später, 1938, wurde er erneut verhaftet und in einem politischen Prozess von einem Militärgericht zu 28 Jahren schwerer Haft verurteilt. Die Jahre im Gefängnis - erst 1950, nach internationalen Protesten, schwerer Krankheit und einem Hungerstreik, kam er im Zuge einer Generalamnestie wieder frei - waren schriftstellerisch seine produktivsten. Im Gefängnis entstand auch sein Hauptwerk "Menschenlandschaften".
Doch auch nach seiner Freilassung ließ das Militär ihn nicht in Ruhe. Mit 49 Jahren und trotz angeschlagener Gesundheit erhielt er einen Einberufungsbescheid zum Militärdienst. Hikmet musste befürchten, dass er eine solche Tortur nicht überleben würde, und entschloss sich zur Flucht. Auf einem Fischerboot, begleitet von Familienangehörigen, passten sie im Bosporus einen russischen Frachter ab. Am Ausgang des Bosporus ins Schwarze Meer kletterte Nazim Hikmet auf das russische Schiff und verließ seine Heimat für immer. Bis zu seinem Tod lebt er in Moskau, wo er mit 61 Jahren am 3. Juni 1963 starb und auch beerdigt wurde.
Seither haben sich verschiedene türkische Intellektuelle immer wieder darum bemüht, den berühmtesten Dichter des Landes in seine Heimat zurückzuholen. Zuletzt war unter der Regierung des Sozialdemokraten Bülent Ecevit 1999 heftig darüber diskutiert worden, Nazim Hikmet wieder einzubürgern und in Istanbul zu begraben. Ecevit scheiterte damals an seinen nationalistischen Koalitionspartnern. Nun macht die islamisch-grundierte Regierung von Tayyip Erdogan möglich, was alle ihre Vorgänger abgelehnt hatten: Nazim Hikmet wird wieder eingebürgert. Ob Hikmets sterbliche Überreste nun von Moskau nach Istanbul geholt werden, muss die Familie entscheiden, sagte Regierungssprecher Cemil Cicek. Sobald der Beschluss rechtskräftig ist, wird aber sicher nicht nur die Familie, sondern auch zahlreiche seiner Anhänger werden dafür Sorge tragen, dass Nazim Hikmet heimgeholt wird.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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