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Naturlandschaft in ChinaIm Zauberwald von Yunnan

Von neu endeckten Menschenaffen, ihren achtsamen Freunden und naturbegeisterten Vogelflüsterern. Ein Besuch in den Gaoligong-Bergen.

Regengeschützter Blick in den Wald Foto: Stefan Schomann

Es gibt nicht allzu viele Weltgegenden, in denen man binnen drei Stunden mühelos vierzig Vogelarten beobachten kann. „Und mit dem Fernglas über sechzig“, tönt Hou Ti-gou, den manche auch den „Vogelflüsterer“ nennen. Ihm und einigen beherzten Nachbarn ist es zu verdanken, dass Baihualing, ein unscheinbares Dorf in den Gaoligong-Bergen, heute pro­speriert. Die umliegenden Bergwälder sollen bis zu 600 Vogelarten beherbergen – mehr als es in ganz Europa gibt.

Als der Direktor des Yellowstone kürzlich auf Besuch kam, bekannte er, von einer solchen Natur habe er immer geträumt. Die schmale, aber gut 500 Kilometer lange Bergkette im äußersten Westen der Provinz Yunnan erstreckt sich p­arallel zu der Grenze zu Burma. Ihre nördlichsten Ausläufer ragen über 5.000 Meter auf. Hier in Baihualing sind die Berge nur mehr halb so hoch, und ganz im Süden verebben sie dann schon in den Gefilden des tropischen Regenwalds.

Als Schüler nahm Hou sie mit der Steinschleuder aufs Korn, die Häherlinge und Waldtauben, die Bülbüls und Timalien. „Die schmeckten so gut.“ Seinem Lehrer brachte er oft Beute mit, „damit er weniger streng mit mir war. Aber durchgefallen bin ich trotzdem.“ 1989 heuerte ihn dann ein taiwanisches Lehrerpaar als Führer an. „Die wollten die Vögel nur sehen – und mich auch noch dafür bezahlen!“ Sie bekehrten ihn schließlich, und seither hat er nie wieder ein Tier getötet.

Dafür schickten sie ihm Gleichgesinnte, im Jahr darauf etwa einen britischen Birdwatcher mit einer Dolmetscherin, die ihn respektvoll mit „Lehrer Hou“ ansprach. Bisher war er immer nur „der kleine Hou“ gewesen. Das Lausbubenhafte ist ihm geblieben: Typ Skilehrer, ständig unter Strom, dabei dem ein oder anderen Gläschen nicht abgeneigt.

Yunnan

Anreise: Üblicherweise über Kunming, von wo aus Flugverbindungen nach Baoshan und Tengchong bestehen. Dort muss man sich dann einen Wagen mit Fahrer mieten, am einfachsten über eine der dortigen Reiseagenturen.

Veranstalter: Zwar haben deutschsprachige Veranstalter attraktive Rundreisen durch Yunnan im Programm, etwa China-Tours (www.china-tours.de) oder Studiosus (www.studiosus.de; just die Gaoligong-Berge aber scheint bislang noch keiner anzubieten. Individual­reisende können sich hier noch als ­Pioniere fühlen.

Reisezeit: Im Prinzip ganzjährig; in den Lagen zwischen 1.500 und 2.500 Metern ist das Klima durchweg angenehm und frühlingshaft. Von Mai bis Anfang August herrscht in den Bergen Regenzeit, doch beschränken sich die Niederschläge meist auf wenige Stunden.

Veröffentlichung: Von Stefan Schomann ist in der Reihe Picus Lesereisen ein Buch herausgekommen: „China – Streifzüge durch ein Weltreich“. In einer Folge literarischer Reportagen unternimmt er ausgedehnte Reisen durchs Reich der Mitte, das für ihn auch ein Reich der Ränder ist, findet er dort doch oft die spannendsten Geschichten.

Schule der Natur

Einen derart eigenwilligen Neubau wie den der Hous besitzt kein anderes Dorf. Der futuristische, weit vorspringende Pfahlbau mutet wie ein Filmset für James Bond an. Für drei Tage hat sich eine Schulklasse aus der Provinzhauptstadt Kunming hier einquartiert. Abends bringen sie ihre Erlebnisse zu Papier: „Im Wald waren wir leise, damit wir den Bären nicht störten“, heißt es dann. Oder: „Ich habe den ersten Frosch außerhalb eines Restaurants gesehen. Und er sprang nicht mal weg.“

Vor einigen Jahren hat die Parkverwaltung eine „Schule der Natur“ ins Leben gerufen, in der Familien und Schulklassen Exkursionen durch die Berge unternehmen. Es ist Teil einer Aufwertung des Schutzgebietes, das bald zum Nationalpark hochgestuft werden soll.

Am nächsten Morgen absolvieren wir einen dreistündigen Parcours, den die Gemeinde angelegt hat. Obwohl er noch auf ihrem Grund und Boden verläuft und die Kernzone lediglich touchiert, lässt sich kaum ein romantischerer Bergwald denken. Die ersten Eindrücke geraten verwirrend. Man sieht den Baum vor lauter Wald nicht, alles sprießt, wächst und verrottet gleichzeitig.

Magnolien und Kamelien strotzen um die Wette, Lorbeer- und Teestrauchgewächse verheddern sich. Die Bäum­e dienen nur als Gerüst für Ranken, Flechten und Lianen. Der Pfad führt zu Wasserfällen, Schluchten, Grotten und Thermalquellen.

Stadtmenschen im Wald

Entlang des Wegs haben Hou und seine Mitstreiter Beobachtungsstände für Birdwatcher angelegt. Mit hyperprofessioneller Ausrüstung behängt, stiefeln sie die Hänge hinauf und hocken sich in Tarnkleidung auf die Lauer. Unterwegs treffen wir die lustigsten Leute. Etwa den Lehrer aus Hongkong, der uns ­mitten im Busch Pralinen anbietet.

Oder den Jungen aus Peking, der als Trophäe ein wildes Bananenblatt herumträgt, das größer als er selber ist. Fast alle Besucher stammen aus Metropolen wie Kanton oder Kunming, einige auch aus Taipeh oder aus Singapur. Die meisten gehören der Mittelschicht an, sind wohlhabend und gebildet. Den Eltern ist sehr daran gelegen, dass ihre Kinder hier Natur aus erster Hand erleben. China entdeckt seine Wildnis, als Gegenwelt zur erdrückenden Wirklichkeit der Städte.

Als der Direktor des Yellowstone kürzlich auf Besuch kam, bekannte er, von einer solchen Natur hätte er immer geträumt

Erst spät am Nachmittag kehren wir zurück. Baihualing, wörtlich „hundert Blumen“, ist so etwas wie Chinas gallisches Dorf. In den neunziger Jahren erlangte es landesweit Bekanntheit, als es sich vor Gericht mit einem hohen Funk­tio­när anlegte, der Holzeinschlag im großen Stil betrieben hatte. Und siehe da: Baihualing gewann. Schon damals ergriffen die Waldbauern auch Maßnahmen gegen die Erosion. Inzwischen pflanzen sie bevorzugt Bäume, die Vögel anlocken. Denn mehr Vögel locken wiederum mehr Vogelkundler an.

Das Dorf verfügt über eine von elf „Stationen“ des Parks, Stützpunkten für Wildhüter und Verwaltung, für Polizei und Feuerwehr, und Anlaufstellen für Besucher. Dank einer Finanzspritze aus Hongkong konnte auch ein hochmodernes Infozentrum eröffnen, das die verschiedenen Ökosysteme und ihre Bewohner vorstellt, vom Schneeleoparden bis zum Salamander.

Wütender Fluss

Von der Terrasse aus schweift der Blick über das Tal des Nu Jiang, in Birma „Saluen“ genannt. Er bildet den westlichsten der „drei Parallelflüsse Yunnans“. Als wäre ihre Bahn mit einer Gabel gezogen worden, fließen hier drei der mächtigsten Ströme der Erde nebeneinanderher. Der Jangtsekiang macht schließlich kehrt und rauscht quer durch China bis ins Gelbe Meer. Der Mekong überantwortet sich nach langer Reise durch Hinterindien dem Südchinesischen Meer, und der Saluen mündet in die Andamanensee. Er mag weniger bekannt sein, doch auch er ist länger als die Donau. Ruhig und seicht streicht er dahin, schillernd wie flüssige Jade.

So muss er sich auch im Sommer 1942 dargeboten haben, als die Japaner von Birma her nach Norden vordrangen. Bis dahin war Chinas Armee über die abenteuerliche Burma Road mit Nachschub versorgt worden. Doch just über diese Straße stießen nun die Japaner bis ans West­ufer des Nu Jiang vor. An einer seichten Stelle schien der Fluss fast stillzustehen, und ihre Panzer rollten hinein.

Er spülte sie wie Spielzeug fort. „Nu Jiang“ heißt „wütender Fluss“. Die Japaner vermochten ihn nie zu überwinden, ihr unerhörter Siegeszug fand hier seine Grenze. Das Kriegsgeschehen an der Yunnan-Front ist in China Schulbuchwissen, hier aber wird es hautnah erfahrbar. Hous Vater, Jahrgang 1935, hat noch die Luftschläge der „Flying Tigers“ miterlebt, wagemutiger amerikanischer Piloten. In karmesinrote Seide gewandet, zeigt er den Gästen sein spektakulär vergammeltes Kabinett mit vergilbten Fliegerfotos und verbeulten Stahlhelmen. Der Besuch ist schon deshalb spannend, weil die Blindgänger nie entschärft wurden.

Der Forschungsreisende

Einer der letzten Forschungsreisenden alten Stils, der diese Berge durchstreifte, war Joseph Rock. Er lebte in Lijiang und zog in den dreißiger Jahren mit Maultierkarawanen bis in den Himalaja, der vielen Räuberbanden wegen mit Begleitschutz. Da Rock schon früh in die Staaten ausgewandert war, wird er gemeinhin als Amerikaner geführt. Doch er war Österreicher durch und durch. Was sich etwa in der unersättlichen Wissbegier des Autodidakten äußerte, in seiner gänzlich unamerikanischen Sehnsucht nach fernen Ländern und Kulturen, und in seinen Wutanfällen über den chinesischen Koch, den er mehrfach feuerte, weil er partout keine Wiener Küche zustande brachte. Und den er dann doch jedes Mal wieder einstellte.

Auf seinen Spuren fahren wir nach Baihuacun, einem Dorf ähnlichen Namens hundert Kilometer weiter südlich, das ebenfalls eine Parkstation beherbergt. Hier wurde eine Entdeckung gemacht, für die auch Joseph Rock viel gegeben hätte. Ins Rollen gebracht hat sie der Dorfschullehrer Li Jia-hong. Vor zwei Jahrzehnten vernahm er einen unerhörten Gesang, ein forderndes Flehen aus den Tiefen des Urwalds. Und er verfiel ihm. Wann immer die Bauern ihm zutrugen, sie hätten „die schwarzen Affen“ gehört oder gar gesehen, versuchte er, sie aufzustöbern. Nach acht Jahren gelang ihm das erste Foto. Langsam lief die Maschinerie der internationalen Forschungsgemeinschaft an. Am Ende waren Spezialisten aus vier Kontinenten damit befasst.

Im Mai dieses Jahres veröffentlichten sie ihre Ergebnisse: Dorfschullehrer Li Jia-hong hat eine neue Menschenaffenart entdeckt. Bis dahin waren diese Affen einer benachbarten Art von Weißbrauengibbons zugerechnet worden. Doch die Gaoligong-Gibbons bilden eine eigene Spezies, von der es nur mehr rund zweihundert Exemplare geben dürfte.

Der Tierfreund

Gemeinsam mit Lehrer Li durchstreifen wir den Busch. Ein klassischer Naturfreund und Autodidakt, unbefangen, eigenwillig, professionell. Als Pädagoge hat er die „Schule der Natur“ mit aufgebaut. Zudem filmt und fotografiert er inzwischen für die Parkverwaltung die Tierwelt vom Rieseneichhörnchen bis zum Roten Panda. Dabei campiert er auch manche Nacht im Freien. „Vor den Tieren habe ich keine Angst, eher schon vor den Menschen.“

Respektvoll begutachtet er Bärenlosung am Wegrand – einige Kollegen wurden von Kragenbären böse zugerichtet. Oben am Kamm pflücken ein paar Bäuerinnen Teekräuter, die, zu Diskusscheiben gepresst, wie Schwarzer Afghane aussehen und auch betörend riechen.

Nach einer Schlitterpartie auf einem Dschungelpfad treffen wir im Schatten eines riesigen Ingwergewächses den Wildhüter Jiang Zi-an, der als Leibwächter eine Gibbonfamilie begleitet. Lächelnd weist er auf drei Gesellen hoch droben in den Wipfeln. Nein, vier, die Mutter hat als Anhängsel ein Junges vor der Brust, während der Vater und das zweite Junge sich von einem Ast zum anderen hangeln. Sie schmausen zarte Blätter, als wäre jedes einzelne eine Delikatesse, sie kratzen sich das Fell, schmausen weiter – und igno­rieren uns komplett.

Sie turnen, als wären sie gegen die Schwerkraft immun. Bedächtig folgen wir ihnen durch den Wald und vergessen die Zeit. Zwischendurch macht Jiang sich auf zur Station, um etwas zu essen. Wildhüter wie er sind die wahren Helden der Berge.

Sie harren sommers in den Regengüssen des Monsuns aus und winters in den klammen Räumen ihrer Stützpunkte. Sie laufen Gefahr, im Sumpf stecken zu bleiben oder sich an Bambushalmen aufzuspießen, die hart und spitz wie Speere sind. Doch für kargen Lohn hüten sie eine kleine Affenbande wie ihre Augäpfel. Drei Viertel aller Affenarten in Asien sind vom Aussterben bedroht, und 95 Prozent ihres Lebensraumes schwinden.

Jiang kommt schließlich zurück, um uns abzulösen. Zum Abschied danke ich ihm für seinen Einsatz. „Schon in Ordnung“, frotzelt er, „Lehrer Li hat mir ja eine Extraportion Reisbrei versprochen.“ Die anderen verlangen schon mal Zulage, wenn sie Überstunden leisten sollen; er sieht es einfach als seine Aufgabe an.

Ich möchte ihm meine Hochachtung ausdrücken, doch alles, was mir einfällt, klänge entweder banal oder pathetisch. Aber sei’s drum. Ob nun dazu befugt oder nicht, ich danke ihm im Namen der Menschheit. Er nimmt es zur Kenntnis und folgt seinen Schützlingen ein Stück tiefer in den Wald hinein.

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