Nationalelf vor der EM: Eine neue Gemeinschaft
Beim 2:1 gegen die Niederlande präsentiert sich die DFB-Auswahl als EM-taugliches Team. Für aussortierte Spieler wird die Teilnahme unwahrscheinlich.
Sicherheitshalber würde man Bundestrainer Julian Nagelsmann gern nahelegen, all diese wundersamen Vorgänge der letzten Tage doch bald zu verschriftlichen, damit möglichst wenig davon verloren geht. In der DFB-Akademie könnte es dann als Weiterbildungswerk nützlich sein. Titelvorschlag: „Wie baue ich trotz nahezu hoffnungsloser Lage in nur zehn Tagen ein turniertaugliches Nationalteam?“
Als Nagelsmann vor den beiden jüngsten Länderspielen etliche altgediente Kräfte außen vor ließ und für ein tragfähigere Teamchemie sechs Neulinge berief, wirkte das auf nicht wenige wie ein verzweifeltes Laborexperiment. Doch praxistauglich war nach dem gelungenen Auftritt beim Vizeweltmeister Frankreich (2:0) dann auch der vor heimischer Kulisse gegen die Niederlande.
Julian Nagelsmann, Bundestrainer, analysiert das Verhalten von Maximilian Mittelstädt beim Frühstück
Zu den erstaunlichen Ereignissen der letzten Tage passte es, dass der eingewechselte Niklas Füllkrug gegen die Niederlande mithilfe seiner linken Schulter in der 85. Minute für ein Happy End sorgte, das nur mit der Torlinientechnologie zu erkennen war. Zuvor war das Publikum, wie Nagelsmann hinterher selbst feststellte, recht still geworden. Das Spiel hätte in beide Richtungen kippen können.
Dieser zweite Sieg in Folge dürfte für den Fortbestand dieser neuen DFB-Gemeinschaft von großer Bedeutung sein. Kurz nach dem Abpfiff konnte man bei Nagelsmanns Statement mitverfolgen, wie sehr sich gerade der Türspalt für außenstehende Kandidaten wie Leon Goretzka, Serge Gnabry oder Nico Schlotterbeck verkleinerte: „Wenn alle gesund bleiben und weiter so performen, werden wir auf jeden Fall nicht zehn Spieler tauschen, eigentlich auch nicht fünf, vielleicht ein, zwei.“ Wobei er dem gesperrten Sané wegen seiner „außergewöhnlichen Qualität“ bereits einen Platz mehr oder minder versprochen hatte.
Es ist erstaunlich. Nagelsmann, der sich so gern in taktischer Exegese verliert, analysiert zunehmend mit der gleichen Leidenschaft das Verhalten seiner Spieler außerhalb des Platzes. Den Neuling Mittelstädt habe er genau beobachtet, wie er sich beim Frühstück nach seinem guten Spiel gegen Frankreich verhält. Er sah nur Gutes: „Unfassbar lieber Kerl, freundlich, immer gut gelaunt.“
Selbstkritik ist „top“
Und bei Kapitän Ilkay Gündogan war ihm die Reaktion nach seiner frühen Auswechslung gegen Frankreich mindestens so wichtig wie sein Spiel. Er habe sich selbstkritisch gezeigt, „das war top.“ Nagelsmann hat das fehlende Miteinander als ein Hauptproblem der Vergangenheit ausgemacht und für eine klare Rollenverteilung zwischen gesetzten Kräften und „Herausforderern“ gesorgt.
Wie nahtlos das bislang in der Praxis aufgeht, ist bemerkenswert. Torschütze Niklas Füllkrug erklärte zu den Veränderungen seit Herbst, als nach den Niederlagen gegen die Türkei und Österreich größte Tristesse herrschte: „Natürlich ist es eine ganz andere Gruppe, die du da beisammen hast.“ Auch habe man die Systematik auf dem Spielfeld ein „bisschen umgestellt“, was sich sehr positiv angefühlt habe. Und er räumte auch dem Unerklärlichen im Fußball einen Platz ein: „Was vielleicht im letzten Jahr alles gegen uns lief, lief jetzt auch für uns.“
Rückkehrer und Weltmeister Toni Kroos, der gegen die Niederlande nicht so herausragte wie gegen Frankreich, hat einen sichtbar positiven Einfluss auf den neuen gemeinsamen Spirit. Zudem trifft die DFB-Elf nach einer langen Phase der Erfolgslosigkeit plötzlich wieder aus Standardsituationen. Gegen die Niederlande schlug er den Eckball, der auf der siegbringenden Schulter von Füllkrug landete.
„Herausforderer“ sorgen für Aufschwung
Für den Umschwung hatten in diesem Spiel aber maßgeblich die in der Diktion von Nagelsmann eingewechselten „Herausforderer“ gesorgt. David Raum, Benjamin Henrichs und Pascal Groß belebten etwa das schläfrige Spiel. Für die Erzählung von Nagelsmann, wie Gruppen zu funktionieren haben, konnte es keine bessere Bestätigung geben.
Und die Geschichte des 27-jährigen Maximilian Mittelstädt veranschaulichte am besten, was dieses neue Team bei allen Unzulänglichkeiten zu leisten imstande sein kann. Mit einem zu kurz geratenen Rückpass hatte er die frühe Führung der Gäste (4.) eingeleitet, eher er sieben Minuten später in seinem zweiten Länderspiel den Ball aus 18 Metern fulminant in den Torwinkel beförderte.
Für diesen Umgang mit einem Negativerlebnis bescheinigte Nagelsmann dem Jungnationalspieler natürlich EM-Tauglichkeit.
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