Nahost-Konflikt in Berlin: Mit harter Hand
Die Berliner Justiz ächzt unter der Zahl der Strafverfahren mit Nahost-Bezug. Doch viele Vorwürfe entpuppen sich vor Gericht als nicht haltbar.

Auch zum Jahrestag am Dienstag sind mehrere Gedenkveranstaltungen und teils umstrittene Kundgebungen geplant. Die Polizei wird mit einem Großaufgebot im Einsatz sein.
Gedenken Mit einer Lichtprojektion am Brandenburger Tor erinnert Berlin am Dienstag an die Geiseln der Hamas. Am Abend sollen die Worte „Bring them home now“ auf das Wahrzeichen gestrahlt werden. Zudem gibt es weitere Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen, etwa am Bebelplatz in Mitte und am Rathaus Neukölln.
Verharmlosung Für den Abend rufen antiisraelische Gruppen zu einer Kundgebung am Alexanderplatz auf. In der Ankündigung wird das Massaker vom 7. Oktober als „heldenhafter Ausbruch“ und „Leuchtfeuer der revolutionären Hoffnung“ verklärt. Flyer zeigen zudem unter anderem Paraglider, mit denen die Terroristen nach Israel eingedrungen waren.
Polizeiaufgebot Rund 1.400 Polizist*innen sollen am Dienstag den Jahrestag begleiten. Dabei werden auch zahlreiche Beamt*innen aus anderen Bundesländern eingesetzt. (taz)
Die Auseinandersetzungen in Berlin rund um das Hamas-Massaker und Israels Krieg schlagen sich unterdessen auch in einer massiven Welle an Strafverfahren nieder. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat in den vergangenen zwei Jahren rund 6.400 Verfahren im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt verzeichnet, wie die Behörde am Montag auf taz-Anfrage mitteilte. Dabei ging es in mehr als 2.000 Fällen um Vorfälle bei Demonstrationen, etwa vermeintliche Widerstandshandlungen oder tätliche Angriffe auf Polizist*innen, aber auch Aussagedelikte, wie das Rufen von möglicherweise verbotenen Parolen.
Zusätzlich dazu dürften viele weitere Ermittlungsverfahren noch bei der Polizei liegen, die diese noch nicht an die Staatsanwaltschaft übergeben hat. Die Berliner Justiz ächzt bereits jetzt: „Durch die bislang rund 6.400 zusätzlichen Verfahren ergibt sich eine erhebliche Mehrbelastung der Strafverfolgungsbehörden“, erklärte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft gegenüber der taz.
Kein hinreichender Tatverdacht
Die Statistik zeigt aber auch: Nur relativ wenige Strafverfahren landen überhaupt vor Gericht. Zum Beispiel wurde von den mehr als 2.000 Verfahren im Zusammenhang mit Protesten rund die Hälfte eingestellt – ein Großteil davon, weil kein hinreichender Tatverdacht bestand. Von den über 4.000 weiteren Verfahren wurde sogar mehr als die Hälfte eingestellt – hier vor allem, weil keine Tatverdächtigen ermittelt werden konnten, etwa weil es sich um Schmierereien an Hauswänden handelte.
Doch selbst wenn es tatsächlich zum Gerichtsprozess kommt, enden diese oft mit Freisprüchen oder niedrigen Geldstrafen. Bislang wurden erst drei Freiheitsstrafen ohne Bewährung sowie 16 auf Bewährung verhängt.
Benjamin Düsberg, Anwalt
Das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft in Berlin steht deshalb seit Langem in der Kritik. In vielen Fällen entpuppen sich Vorwürfe vor Gericht als nicht haltbar. „Richter*innen schütteln den Kopf angesichts dessen, was dort angeklagt wird“, beobachtet etwa der Strafverteidiger Benjamin Düsberg, der viele Fälle mit Nahost-Bezug betreut.
Die Hauptverantwortung für die hohe Zahl an Strafverfahren infolge von Demonstrationen sieht Düsberg bei der Staatsanwaltschaft selbst. „Die Staatsanwaltschaft gibt die Grundlinien vor, welche Äußerungen als strafbar anzusehen sind und welche nicht“, sagte er am Montag zur taz.
In der Folge eskaliere die Lage bei Demonstrationen oft, weil die Polizei vermeintlich strafbare Parolen ahnden wolle und dafür gewaltsam gegen die Protestierenden vorgehe. Im Handgemenge komme es dann zu Vorfällen, die als Widerstandshandlungen sowie Angriffe auf Polizist*innen angezeigt würden – und in der Polizeistatistik als „Gewalttaten bei Demonstrationen“ geführt werden.
Aber: „Gerichte sehen vieles anders als die Polizisten“, erzählt Düsberg. Videoaufnahmen hätten schon oft die Aussagen der Polizei zu vermeintlicher Gewalt von Demonstrant*innen widerlegt, betont der Anwalt. Auch Äußerungsdelikte würden nur selten verurteilt. Das zeigte sich zuletzt etwa in einer Reihe von Freisprüchen nach der Verwendung der umstrittenen Parole „From the River to the Sea“.
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