: Nachts werden alle Katzen kunterbunt
Im Maxim-Gorki-Theater dreht sich „Das Karussell“ von Klaus Chatten. Auch Berlin dreht sich rasant. Wer der Geschwindigkeit nicht standhält, fliegt runter. Das Angebot, gerade bei Nacht, ist riesengroß
von JAN FEDDERSEN
In jedem Schwarz sind zwar alle Farben enthalten. Aber pures Schwarz verschluckt jedes Licht. Dunkelheit ist gnädig. Sie glättet verlebte Gesichter und lässt Jüngere noch makelloser erscheinen. Wer sich am liebsten nachts auf die Straße traut, Männer in Frauenkleidern oder Frauen auf der Suche nach einem Aufriss gegen alle Konvention des weiblichen Wartens, der liebt die Zeit der Dunkelheit, die mit Zwielicht beginnt und mit ihr endet – dem Morgengrauen, das wohl nicht umsonst so heißt.
Solche Menschen werden im Klischee gern Paradiesvögel genannt, obwohl diese sich niemals so fühlen würden. Berlin, genauer gesagt: in der jüngeren Geschichte vor allem West-, aber auch Ostberlin, war und ist der Ort, wo es freier nicht zugehen kann. Hier gibt es die Nischen, an denen es in, sagen wir: Neumünster, Bad Kreuznach, Oberwiesenthal oder Kleve fehlt. Nur in Ostberlin konnte eine Charlotte von Mahlsdorf zur Ikone der DDR-Homobewegung werden, nur in der Frontstadt des Westteils konnte eine Person wie Romy Haag zum regionalen Weltstar werden. Hier hält man alles aus, sogar das Andere.
Das mag mit der Größe der Stadt zusammenhängen, damit, dass jede schillernde Person hier noch Gleiche findet, um nicht einsam am Eigenen zu werden. Vielleicht auch mit einer Einrichtung, die vor allem Touristen schätzen – der nicht gesetzten Sperrstunde in Kneipen, Diskos, Clubs und Cafés. Berlin ist eine Insel von Minderheiten, die sich in der Stadt nicht so fühlen müssen. Niemand gibt es, der sich ernsthafterweise beschweren würde. Und wenn doch, fiele sein oder ihr Meckern auf geringste Resonanz.
Doch Berlin ist auch die Stadt der Karussells geworden. Wer der Geschwindigkeit nicht standhält, wer mit ihr nicht mitkommt, fliegt runter. Das Angebot, gerade bei Nacht, ist riesengroß. Hält der eine Liebhaber nicht, was er verspricht, wird er ersetzt – worüber sich eben hier niemand beschweren darf.
Gerade des Nachts wird entschieden, was zählt – und was am Tage keine Gültigkeit mehr haben muss. Klaus Chatten, der Theaterautor, hat über diese Befindlichkeit reichlich Zeugnis abgelegt. Er kennt die Szenen und Milieus, die sich überhaupt nicht mehr vorstellen können, dass es jenseits der beinharten Rivalitäten in den Kneipen und Bars und Lokalen so etwas wie Treue, Verlässlichkeit, Loyalität und Vertrauen gibt. Er weiß, dass der Wahnsinn der Metropole Berlin alles verheißt und verspricht, was Leidenschaft lohnt – aber nicht zu konservieren ist.
Die dunkle Seite der Stadt – sie kommt nirgends besser zum Vorschein als in London, Paris oder Berlin. Das sind dann keine Gelüste mehr, die mit Stichworten wie Café Kranzler, KaDeWe oder Borchardts umschrieben. Sie markieren nur das Offizielle, nicht das Wirkliche, das Streunende, das Suchende und Scheiternde. Die weltabgewandte Seite der Stadt, sozusagen, ist jene, die sich nur den Körpern widmet. In den Kabinen der Pornokinos, den Gebüschen im Tiergarten oder im Volkspark rund um den Märchenbrunnen. Dort sind nachts die Katzen nicht grau – sondern kunterbunt, wie das Leben.
Dort werden die Arrangements getroffen, die Klaus Chatten skizziert, wenn er einen älteren, erfolgreichen Mann beschreibt, der sich die ewige Liebe aushandelt, wenn er seinem Geliebten Erfolg zu ermöglichen verspricht. Ein Szenario, das kälter klingt, retortenhafter gar, als es sich anfühlt, vermutlich.
Dass die Presse auf ihn und seine Stücke so harsch reagiert (von einem „bekennenden Heterosexuellen“ war in der Berliner Zeitung heftig beleidigt die Rede), mag damit zu tun haben, dass Chatten ausgesprochen nüchtern über das spricht, was sich hinter den Fassaden der Wohlbürgerlichkeit, firmiert sie nun als neue oder alte Mitte, abspielt: erkältete bis leichenkühle Verhältnisse.
Die Kriminalitätsstatistik gibt ja den Liebhabern der Nacht in fast jeder Hinsicht Recht. Sexueller Missbrauch findet nicht an den klandestinen Orten statt, sondern in den Familien, die gern von sich behaupten, es dort nicht so kommod zu finden. Und im Dunklen wird weniger ausgeraubt als bei Tage. Die schwarze Tageszeit ist die der Armut an Gefahr – weil doch jedes Kind weiß, dass in der Dunkelheit jeder Gegner, jede Gegnerin am ehesten auszumachen ist.
Und doch macht Dunkelheit unsicher, zumal abseits der Boulevards. Sie deutet Lust an. Die Chance, von fremden Körpern begehrt zu werden. Und die Möglichkeit, immer ein wenig im Unsichtbaren zu bleiben.
„Die Nacht zeigt nicht jedem ihr Gesicht“, hieß es in einem Song (von Joy Fleming) – und das Gros aller Popkultur lebt und lebte überhaupt von Bildern aus der Nacht, über sie und mit ihr: Stunden der Transzendenz im Wartezustand. „Lieder der Nacht“ von Marianne Rosenberg oder „Nachts, wenn alles schläft“ (ein Filmtitel als Ausdruck kleinbürgerlicher Angstlustphantasie): Spots über jenen Zeitraum, der dem Schlaf vorbehalten sein soll – und doch zum Träumen einlädt. Und zum Ausprobieren.
Klaus Chatten hat von der Lust am „Karussell“ der Nacht geschrieben. Die Kritik an seinem Stück beweist wenigstens dies: dass die Freischärler der Metropole nie gänzlich dem Markt der Lust unterworfen werden können. Und das ist tröstlich.
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