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■ NachschlagAlltag einer Flucht: Aldo Zargani las im Jüdischen Literaturhaus

Die erste Anekdote, die er erzählt, handelt von der Reaktion eines Freundes. Auf den Bericht, wie er mit seiner Familie im September 1939 aus der Schweiz nach Turin zurückkehrte, wie östliche Juden ihnen erklärt hatten, ihr Judentum sei zu schwach ausgeprägt für die Aufnahme in ein Basler Flüchtlingslager, meinte der Freund zu den Zarganis: „Seid froh! Wärt ihr geblieben, würdet ihr heute mit einem schauerlichen Akzent deutsch sprechen.“

Aldo Zarganis Erstling „Für Violine Solo“, in dem er sich an seine Kindheit zwischen 1938 und 1945 erinnert, ist aufgesprengt in Episoden. Sie klingen, als habe er sie Freunden erzählt, um ihnen einen Blick auf den Alltag einer Flucht zu gewähren – der Flucht vor der Vernichtungsmaschinerie. Weil Zargani die Kindheit „als eine Art Fernrohr“ versteht, das „mit einem Mikroskop verbunden ist“, schimmert die Bedrohung bloß als Subtext durch. In einer Episode beschreibt er den Tag im Dezember 1943, an dem in der Stampa der polizeiliche Befehl des Innenministers zu lesen war: „Alle Juden werden in die Konzentrationslager verschickt.“ Anstatt die Panik zu benennen, beschreibt Zargani bloß die Reaktion seines Vaters. Er „schleuderte mit den Füßen die Bettdecke in die Luft, riß sich die Nachtmütze mit der Quaste vom Kopf, sprang aus dem Bett, streifte die Schlafanzughose ab, ohne darauf zu achten, daß er damit seine gesamte Männlichkeit entblößte, er, der sonst so schamhaft war; dann fuhr er in seine Hose, während er oben immer noch die Schlafanzugjacke trug, und ohne zuerst die wollene lange Unterhose anzuziehen, die er im Winter immer zu tragen pflegte.“

Es sei ihm beim Schreiben aber auch um die Wiederbelebung einer untergegangenen Welt gegangen, sagt Zargano. In den bäuerlich geprägten Gebirgstälern um Turin, in denen auch Partisanen „zugange waren“, wurden ab 1943 oft so viele jüdische Familien versteckt, daß man „Haus der versteckten Juden“ als topographische Bezeichnung verwendete. Diese Welt gewährte auch seiner Familie Unterschlupf. Nur mit Mühe konnte Zarganos Vater, Violinist und Städter, sich dafür revanchieren: Er „verdiente das Essen auf hundert verschiedene Arten: sonntags vor der Messe richtete er Alten und Verrückten Haar und Bart. Die bartlosen Schwachsinnigen standen Schlange und setzten sich dann in den Sessel, ohne ihm zu sagen, was sie haben wollten, woraufhin er sie überaus sorgfältig rasierte, dann ließ er das Handtuch knallen, sie sich im Spiegel betrachten und genauso schweigend und bartlos von dannen ziehen, wie sie gekommen waren.“ Susanne Messmer

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