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SanssouciNachschlag

■ Total Music Meeting

Abseits der Spielorte des JazzFests, der Philharmonie und des Tränenpalasts, abseits der modischen Perfektion des Jazz der siebziger Jahre und abseits der Monitorwände im Tränenpalast, auf denen für Sekunden ein Menetekel aufleuchtet: „The establishment bombs bullets and bullshit“, findet das Total Music Meeting (TTM) statt, im Konzertsaal des Podewil mit 250 Sitzplätzen. Etabliert ist es auch seit nunmehr 26 Jahren, doch hier hat sich die Freude am Experiment erhalten, hier gibt es noch die dilettantischen Brüche im Spiel oder den bewußt schmutzigen Sound, aber auch das Profil der im freien Zusammenspiel gelungenen Definition des musikalischen Augenblicks. Große Worte nicht groß genug für das Butch Morris Trio, das zwischen provinzieller Mandschurei und suburban California auch mal einen interplanetarischen Umweg einschlägt, wenn Sounddesigner J.A. Deane die Bambusflöte weglegt und mit seiner elektronisch veränderbaren Posaune Töne erzeugt, sie im Raum stehen läßt und gleichzeitig mit einem Zug durchs Frequenzspektrum jagt, Perkussionist Le Quan Ninh sich vom ehernen Gong ab- und der rasenden Bearbeitung von Metallstäben zuwendet und Butch Morris am Kornett die pentatonische Klage zunächst in ein Ploppen der Ventile und dann in laborartige Zisch- und Sauggeräusche überführt.

Der Solist Peter van Bergen versteht es meisterlich, eine kurze Phrase scheinbar zu repetieren, während er mit der Luftsäule im Saxophon jonglierende diskante Obertonreihen variiert. Richtig warm geworden, könnte er seine „Stimme“ getrost so mancher virtueller Saurierart leihen. Auch Wolfgang Fuchs bläst keine Skalen, läßt die Töne abkippen, produziert den Rhythmus mit den Klappen seiner Klarinette und schreckt auch nicht davor zurück, auf einem Megaphon zu blasen. Der Phantasie sind auch beim Auftritt der Britin Vanessa Mackness keine Grenzen gesetzt. Die Vokalistin zelebriert eine Lithurgie der Alltagsgeräusche vom Schlürfen des letzten Endes Spaghetti bis zum sinnlosen Geplänkel erboster Nachbarn. Und wenn sie dann mal zu einer Arie anhebt, bricht sie sofort wieder ab, als wäre ihr plötzlich eingefallen, daß sie deshalb nicht hier ist.

Doch selbst das Bekannte unterliegt beim TMM keinem generellen Tabu. Das COWWS-Quintett legt in der Manier des Hot Club de France los und endet in einem waschechten Jive. Besonders Stephan Wittwer an der E-Gitarre ist ein Garant für die schamlose Verwendung von Klischees aller Art, nicht ohne sie bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Der Abgang der Band ist stark. Wittwer zupft á la Hawaii, die Gitarre dabei hinter seinem Kopf haltend, Phil Wachsmann tanzt mit seiner Geige wie ein aus der Kontrolle geratener Roboter, und der beleibte Rüdiger Carl balanciert die Klarinette auf seinem Kinn mit erstaunlichem Stehvermögen. Jemand erwähnt Sun Ra. Vielleicht seine europäische Inkarnation?! Peter Thomé

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