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■ NachschlagMenschenfeind werden - Karl Mickel über Gottfried Benn

Ein aufgeregter Mann an der Abendkasse der Schaubühne: „Empörend! Das ist absolut unglaublich! Rufen Sie sofort Herrn Böhme an! Oder halt, warten Sie! Ich werde selbst mit ihm sprechen.“ Und schon drängelt er sich in das kleine Kassenhäuschen und läßt sich verbinden. Doch auch das Telefonat scheint nicht die erwünschte Wirkung gehabt zu haben. Kopfschüttelnd verläßt er das Kassenhäuschen, faßt aber gleich darauf neuen Mut, winkt eine kleine Gruppe, die am Rande wartet, zu sich und verkündet: „Wir gehen jetzt einfach rein. Wäre ja wohl noch schöner. Kommt alle mit!“

Die Kleingruppe sind StudentInnen der Hochschule Ernst Busch, der aufgeregte Herr ist ihr Professor, der Dichter Karl Mickel, der nur eine Viertelstunde später allein auf der Bühne des Theaters am Lehniner Platz sitzt, um im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Deutsche Schriftsteller sprechen über deutsche Schriftsteller“ über Gottfried Benn zu sprechen.

Es ist eine Ost-West-Veranstaltungsreihe. Autoren aus der DDR sollen beschreiben, welchen Einfluß Schriftsteller aus dem Westen auf ihr Schreiben hatten und umgekehrt. Mickel, 1935 in Dresden geboren, Poet der „Sächsischen Dichterschule“ und einer der bedeutendsten Lyriker der DDR, beschreibt an diesem Abend den Weg des Gottfried Benn zum „Menschenfeind“. Mickel zeigt anhand verschiedener Benn-Gedichte, die er handstreichartig souverän analysiert, wie dem frühen Benn die Ethik in die Poesie „hineingepfuscht“ habe und wie beispielsweise ein Gedicht wie „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ durch ein christlich-moralisches Ende, zu dem Benn, der Pfarrerssohn, sich noch genötigt sah, an Kraft verlöre. Oder „Menschen getroffen“, „ein Jahrhundertgedicht“, wie Mickel meinte, „nur leider schlecht gedichtet.“ Und das nur deshalb, weil der Dichter, nachdem er es geschrieben, sich so erschrak darüber, daß die Welt so war, wie er sie sah, daß er sich das Gedichtete aus den Augen tun mußte, bevor er sich um technische Feinheiten bekümmern konnte.

Erst der späte, der zum „Menschenfeind“ vollends ausgebildete Benn, war für Mickel der große Dichter. Volker Weidermann

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