■ Nachschlag: Entspanntes Gedenken: „Stimmen aus dem Feuer“ auf dem Bebelplatz
Am 10. Mai 1933 überschlug sich hier die Stimme von Joseph Goebbels. Studenten der Humboldt-Universität schafften schubkarrenweise Bücher herbei, um sie ins Feuer zu werfen. Erich Kästner beobachtete stoisch die Verbrennung seiner Werke, bis jemand rief: „Da steht ja Kästner!“ Über der hysterischen Menge, auf eine lange Stange gespießt, schwankte gespenstisch der Kopf einer zerbrochenen Büste von Magnus Hirschfeld.
Die Menschen, die sich 65 Jahre danach am späten Abend auf dem Bebelplatz versammelten, standen regungslos und schweigend. Wie bestellt hing links ein stimmungsvoller Vollmond über der Hedwigskathedrale, und rechts leuchtete hoch oben eine Werbetafel auf einem Baukran. Berlin 1998: So entspannt kann Gedenken sein. Im Zentrum der stummen Menge befand sich Micha Ullmanns eher unauffälliges Denkmal „Bibliothek“. Die in den Boden eingelassene Glasscheibe, unter der ein heller, großer Kubus mit leeren Regalen erkennbar ist, war mit roten Rosen geschmückt. Dahinter standen zwei Pulte, an denen Berliner Schauspieler aus den verbrannten Texten lasen. „Stimmen aus dem Feuer“ nannte Regisseur Ronald Steckel diese Collage, die der SFB live übertrug und die alle Berliner Literaturhäuser gemeinsam veranstalteten.
Der weite Platz war mit zahlreichen Lautsprechern bestückt, so daß man auch aus größerer Entfernung folgen konnte. Zuhörer saßen auf den Bordsteinen am Rand, lagen auf dem Boden, um in den Himmel zu blicken, oder umkreisten bedächtig das Geschehen. Die Namen der 22 Autoren – von Theodor Plivier bis Kurt Tucholsky oder Sigmund Freud – erschienen in Diaprojektion an der Wand des Operngebäudes. Das war alles, was man sich an inszenatorischer Zutat genehmigte. Auch die Vorleser blieben bescheiden auf die Texte konzentriert und erlaubten manche überraschende (Wieder-)Entdeckung: der erstaunlich klaren und präzisen Sprache von Karl Marx etwa, der mit einem Auszug aus den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ zu Wort kam. Und war es tatsächlich Robert De Niro, der da plötzlich tadellos akzentfrei vorlas? Christian Brückner ist immerhin De Niros Synchronstimme, und so klang Carl von Ossietzky exakt wie Luis Gara, der kleine Ganove aus Quentin Tarrantinos „Jackie Brown“. Ein sehr hübscher V-Effekt. Jörg Magenau
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