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■ NachrufWie ein Maulwurf gegen die Institutionen der Macht

Wie alljährlich – es war schon Tradition geworden – wollten wir uns auf dem Hügel in San Quirico treffen. September-Gespräche gewiß nicht über „Gott, Gemüt und Welt“, wie es bei Goethe hieß, vielmehr über die vorgebliche Endlösung aller revolutionären Aussichten, über die krisenfesten Mißstände der Republik und den krisenhaften Zustand der Autonomie und der Autonomen, die hoffen ließen und zugleich alles falsch machten. Und über das Thema seiner Dissertation: die altgriechische Sophistik.

Der Besuch wurde zunächst auf den Oktober verschoben, mußte dann abgesagt werden. Aber nicht so schlimm: Wir sähen uns doch Mitte Januar in Berlin. Statt dessen ein knapper Anruf, Roger sei tags zuvor verstorben, das Ende eines gemarterten Lebens, ganz der radikalen Veränderung der Gesellschaft, ihrer radikalen Humanisierung gewidmet: ohne Illusionen, realistisch bis zur Bitterkeit, mit klarem Bewußtsein des Notwendigen.

Die geplante Dissertation diente keinem akademischen Zweck: Roger und Doktortitel paßten kaum zueinander. Aber die alten Sophisten hatten für ihn eine ganz andere Bedeutung, sie gehörten geschichtlich nicht zur Akademie, sondern zur Wirklichkeit einer Arbeit „sousterre“, zur Arbeit des Maulwurfs, der über Epochen hinweg geduldig gräbt: „... philosophische Neugier und Ratio, Aufklärung und Subversion, Skepsis, Negation und Destruktion heißen die Kategorien, die diesen Tagen fehlen“.

Derart war die alte Sophistik für ihn vorbildlich für die kritische Infragestellung – bis zur Auflösung hin – althergebrachter Denkformen, die schon damals nichts anderes waren als die gedankliche Übersetzung festgefügter Strukturen der Herrschaft und der Macht.

Heute stehen andere Denkformen für andere Strukturen. Die Aufgabe, die Vorarbeit des Maulwurfs, bleibt die gleiche: „Die Institutionen der Macht gehören abgeschafft. (...) Die Organisationen, Institutionen und Vermittlungen, also das dominierende Delegationsprinzip ,Herrschaft und Vertretung', sind antizipatorisch zur Disposition zu stellen (...) Das Auseinanderfallen in eine Basis auf der einen Seite, die auf der anderen Seite notwendig eine Spitze benötigt, sind in der Vorwegnahme abzubauen.“

Utopisches meldet sich an, der Traum jener Sache, die da die Gesellschaft der Freien und Gleichen heißt. Genau jene Utopie also, die den einzigen realen Ausweg aus der Inhumanität einer barbarischen Welt des gesellschaftlichen Lebens, aus der kapitalistischen Weise der Produktion und Reproduktion zeigt – im Klartext gesprochen.

„Wen die Götter lieben, den rufen sie früh zu sich.“ Für Roger stimmt diese Spruchweisheit nicht. Die Götter, die Jenseitigen wie die Diesseitigen, haben ihn nicht geliebt, sondern mißhandelt. Er hat ihnen aber getrotzt, trotz alledem gelebt, gedacht, gehandelt.

Um ihn ist Trauer zu tragen. Ihren Sinn findet unsere Trauer nicht im bloßen Wachhalten einer Erinnerung, sondern im Weitergehen und Weiterwirken. „Für Menschen, die an gesellschaftlicher Emanzipation interessiert sind und sich für diese engagieren wollen, heißt die Devise kurz und bündig: ,Wieder geht alles von vorne los‘.“

Ciao, Roger Johannes Agnoli

Der Autor ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität

Die Zitate stammen aus: Roger Wittmann: „Vom neuen beginnen. Mit Energie und fröhlicher Gelassenheit zur revolutionären Autonomie“, in: Geduld und Ironie, Freiburg 1995.

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