Nachruf auf Wolfgang Schäuble: Ein Denker des Status quo
Wolfgang Schäuble war einer der wenigen Intellektuellen in der Union. Er verkörperte Toleranz und Engstirnigkeit der bundesdeutschen Politik.
Seine Krankheit hatte Wolfgang Schäuble geheim gehalten. Er hatte Krebs. Bloß kein Mitleid. Lerne leiden, ohne zu klagen, das war ihm selbstverständlich, die Selbstverwirklichungskultur, in der jeder Semiprominente in den sozialen Medien seinen Burnout präsentiert, fremd. Ihn umgab eine Härteschicht. Gegen andere, aber auch, vielleicht vor allem, gegen sich selbst. Der Protestant aus Baden achtete auf Distanz. Er hatte etwas stählern Preußisches, das durch das weiche südbadische Idiom gedämpft wurde. Isch over.
Seit 1990 saß er nach einem Attentat im Rollstuhl. Bei unserem letzten Interview erzählte er von einem Anruf 1991. Er war Innenminister, Tarifverhandlungen standen an. Die Gewerkschaftschefin Monika Wulf-Mathies rief an. Es gebe 24-Stunden-Sitzungen, die er kaum durchhalten werde. Die Beschäftigten aber dürften nicht denken, dass die Gewerkschaften aus Rücksicht auf ihn am Ende ein paar Mark weniger bekommen. Man müsse eine Lösung finden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Schäuble, wie viele Männer seiner Generation sparsam mit Gefühlen, erzählte diese Geschichte mehr als 30 Jahre danach noch immer fast lodernd dankbar. Wulf-Mathies hatte ihm Mitleid erspart und Tatsachen angesprochen. Die Welt der Tatsachen, der Verhandlungen und Realpolitik, das waren Schäubles vertraute Spielfelder. Er sprach von sich selbst als Krüppel, nicht als Behindertem. Bloß kein Mitleid.
Er war mehr als ein halbes Jahrhundert Parlamentarier. Schäuble war Fraktionschef und CDU-Vorsitzender, Bundesinnen- und Bundesfinanzminister, Bundestagspräsident und der Mann, der den Einigungsvertrag verhandelte. Er war zwei Jahrzehnte lang Helmut Kohls rechte Hand, sein natürlicher Nachfolger, bis Kohl ihn im Spendenskandal mit in den Abgrund riss.
Die Spendenaffäre und der Bruch mit Kohl
Die bundesdeutsche Politik ist sachlich, verglichen mit dem Pomp und den barocken Bestechungsaffären in Paris absurd normal. Die Staatsräson der Bundesrepublik ist die Fixierung auf die Mitte, ihr Modus das geräuschlose Funktionieren des Apparats. Sie ist eher untauglich für Dramen. Schäubles Bruch mit Kohl war eine shakespearehafte Tragödie um Macht, Treue, Lüge, Verrat. Kohl opferte seinen loyalen Gefolgsmann, so sah Schäuble es. Die CDU-Spendenaffäre war der Tiefpunkt seiner Karriere. Er hatte etwas getan, was seinem Pflichtethos widersprach: Er hatte die Loyalität gegenüber Kohl über die Loyalität zu Staat und Gesetz gestellt.
Schäuble verkörperte das Strahlende und das Finstere bundesdeutscher Politik wie kaum ein Zweiter – das Provinzielle, Enge, Vernagelte ebenso wie das Zivile, Tolerante, Tugendhafte. Er hatte gusseisern wirkende konservative Überzeugungen, die allen braven Linksliberalen einen Schrecken einjagten. In der recht langen Reihe seiner politischen Fehler stechen zwei hervor. Beide sind Ergebnisse westdeutscher Blickverengung.
Der Einigungsvertrag, den Schäuble unter extremem Zeitdruck geschickt aushandelte, hatte zwei Defekte. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ von in der DDR Enteignetem war Ausdruck des Eigentumsfetischs des westlichen Bürgertums. Die Folge waren zwei Millionen Rückgabeanträge für Häuser und Grundstücke – und das Gefühl im Osten, ohnmächtig über den Tisch gezogen zu werden.
Schäuble hielt auch den Beitritt der DDR für ausreichend und eine neue Verfassung für überflüssig. Das Ergebnis war, dass viele im Osten meinten, als Defizitdeutsche zwangsvereinigt worden zu sein. Auf der Habenseite steht, dass er mit seiner Rede im Bundestag 1991 die Mehrheit Richtung Berlin als Hauptstadt drehte. Würde der Osten von Bonn aus regiert – es wäre manches schlimmer.
Fataler Auftritt als Zuchtmeister in der Eurokrise
Völlig fatal war Schäubles Auftritt als deutscher Zuchtmeister in der Eurokrise. Schäuble, der Jurist, glaubte felsenfest, dass Verträge eingehalten und Schulden zurückbezahlt werden müssen. Er trat in der größten Krise des globalen Kapitalismus seit 80 Jahren als herzloser Buchhalter auf. Griechenland wollte er am liebsten aus dem Euro werfen. Merkel unterband am Ende dieses Hasardeurspiel. Es hätte eine zerstörerische Dynamik in Gang setzen können, die womöglich den Euro vernichtet hätte. Schäubles Spardiktat wirkte in Griechenland sozial verheerend. Ob es im europäischen Interesse ist, dass China der Hafen in Piräus gehört, ist auch fraglich.
Schäuble redete als Finanzminister wie ein Neoliberaler und wurde als Neoliberaler bekämpft. Aber er war keiner. Die pseudoreligiöse Überhöhung des Markts war ihm suspekt. Sein Denken fußte auf drei Überzeugungen, Marktwirtschaft war eine davon und nicht die wichtigste. Im Zentrum stand der Schutz der Institutionen der Demokratie. Und daneben die Sorge um die Gesellschaft, die, bedroht von Egoismus und Individualismus, mehr Zusammenhalt brauchte. Wie immer bei Konservativen blieb auch bei Schäuble die Klage um den Mangel an Gemeinsinn und die zerfranste Gesellschaft hilfloses Händeringen.
Die Frage, die er in Büchern und Reden hellsichtig und mit nüchternem Juristenverstand bearbeitete, lautete: Wie erhalten wir Wohlstand und Demokratie? Schäuble war ein Denker des Status quo, immer fixiert auf das pragmatisch Machbare. Er war kein Visionär wie der Sozialdemokrat Erhard Eppler, der in den 1970er Jahren, mitten in der Hochzeit westlicher Wachstumseuphorie, begriff, dass Ökologie alles umstürzen und revolutionieren würde.
Schäuble wirkte knorrig, bescheiden, ernsthaft. Als wir ihn vor ein paar Jahren im fast herrschaftlich anmutenden Büro des Bundestagspräsidenten im Reichstag interviewten, gab es Wasser, kein Gebäck. Das war ungewöhnlich. Auch in Büros unbekannter Abgeordneter stehen bei Interviews immer ein paar Kekse vom Discounter auf dem Tisch. Ein Zeichen: Willkommen. Bei Schäuble gab es keine Kekse. Das war wohl die Botschaft: Wir sind nicht zum Spaß hier.
Ein überzeugter Konservativer
Er war ein überzeugter Konservativer, aber immer flexibel genug, sein Image als Law-and-Order-Mann strategisch einzusetzen und den deutschen Konservativismus vor innerer Verholzung zu bewahren. In den 1990er Jahren löste er die Verkrampfung zwischen Union und Grünen, indem er Antje Vollmer als Vizepräsidentin des Bundestags durchsetzte. Er etablierte als Innenminister nach 9/11 die Islamkonferenz. 2015 hielt er Angela Merkel in der Flüchtlingskrise den Rücken frei und verordnete der Union „ein Rendezvous mit der Globalisierung“. Es ist kein Zufall, dass viele Linke, von Gregor Gysi bis Fabio de Masi, fast warmherzig über ihn reden. Schäuble respektierte Demokraten, egal woher sie kamen. AfDler gehörten nicht dazu.
Schäuble verstand besser als viele in der Union die Bedrohung durch den Klimawandel, weil sich das in sein Weltbild einfügen ließ. Anders als der Feminismus. Dem begegnete er halb misstrauisch: Er teilte die konservative Skepsis gegenüber Gleichheitsansprüchen, ein Feld, dessen Bewirtschaftung man der politischen Linken überlässt.
Schäuble hatte – mit der spektakulär finsteren Ausnahme der Eurokrise – meist einen klaren Blick auf das, was der Fall ist. In den letzten Jahren hat er immer wieder vor dem Populismus gewarnt, den er für einen Angriff auf alles hielt, woran er glaubte: die Demokratie, die Institutionen, die CDU. Die Konservativen wirken von Frankreich über Österreich, von Ostdeutschland bis in die den USA ratlos angesichts der rechtspopulistischen Attacke. Schäuble hat diese Bedrohung früh und präzise erkannt. Ob Friedrich Merz und Carsten Linnemann das intellektuelle Format und den strategischen Weitblick haben, dem Rechtspopulismus zu widerstehen, ist offen. Schäuble fehlt der Union. Gerade jetzt.
Im Alter ist Schäuble, der als Minister auch mal auf offener Bühne seinen Pressesprecher demütigen konnte, milder geworden. All die Niederlagen, Verletzungen, Schicksalsschläge, die sich in dieses Leben eingebrannt hatten, schienen entschärft, versöhnt, aufgehoben. Ein Abschied ohne Bitterkeit. Am 26. Dezember ist Wolfgang Schäuble mit 81 Jahren gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“