Nachruf auf Chuck Berry: Godfather des Rock ’n’ Roll
Er besang das typische Teenagerleben der 50er-Jahre. Als Afroamerikaner war er trotz der Segregation in den USA hoch populär.
Worauf es ankam beim Rock ’n’ Roll der Fünfziger: Gitarrenriffs mit Vorwärtsdrang, sexy Hüftschwung und starke Nerven. Wer damals im Rampenlicht stand, brauchte außerdem einen guten Anwalt, dazu später mehr.
Chuck Berry besaß alles, um berühmt zu werden. Er hatte einen bleistiftdünnen Schnurrbart, war schlank, hochgewachsen und spielte eine glasklare Boogie-infizierte Gitarre. Seine Stimme war sonor, und sie wusste Bescheid, klang genauso wellig und ölig, wie sein Haar aussah.
Einer von Berrys frühen Hits, komponiert 1956, wies auch gleich auf den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Getreu dem Namen Rock ’n’ Roll musste man sich zur neuen Teenager-Musik bewegen. Vögeln oder tanzen, aber bitte nicht im Sitzen hören wie die Alten. Berry selbst war auf der Bühne ein Derwisch, er watschelte gerne mit seiner Gitarre im Anschlag, ein Move, der später als „Duck Walk“ in die Annalen des Rock ’n’ Roll eingehen sollte.
„You know my temperature’s risin’ / The jukebox’s blowin’ a fuse / My heart beatin’ rhythm / And my soul keep-a singing the blues / Roll over Beethoven / And tell Tchaikovsky the news“. „Roll over Beethoven“, so der Titel dieses Songs, war im Streit mit Berrys Schwester Lucille entstanden, die das Klavier der Eltern zu Hause blockierte, um klassische Musik zu üben. Chucks Rache, er griff sich die Gitarre und komponierte. Es sollte einer seiner erfolgreichsten Songs werden.
Eine Guitarre wie eine Kreissäge
Charles Edward Anderson Berry, geboren 1926 in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri als viertes von sechs Kindern. Der Vater war Diakon einer Baptistenkirche, die Mutter leitete eine Schule. Chuck Berry gehört zur ersten Generation afroamerikanischer Rock ’n’ Roller. Nach einer kurzen Phase, in der er sich in den frühen Fünfzigern unter den Fittichen des Bluesmusikers Muddy Waters ausprobiert hatte und einige Demoaufnahmen einspielte, nahm er 1955 den Song „Maybellene“ auf. „Rock ’n’ Roll Guitar starts here“, wie der Rolling Stone den rohen Sound treffend beschrieben hat: „Maybellene“ ist eine Vollgas-Uptempo-Nummer mit angeschwipstem Piano und einer scheppernden, von Berry selbst gespielten Gitarre, die wie eine Kreissäge klingt.
Der Songtext fasst ein Autorennen frisierter Oldtimer mit einer Lovestory zusammen, am Ende fließt nicht nur Herzblut, auch die Motorhauben rauchen. Berry sang fast ausschließlich Eigenkompositionen, so wurde er zu einer allseits geachteten Figur, die auch spätere Musikergenerationen, vor allem britische Künstler, beeinflusst hat.
Am meisten in Erinnerung bleibt die Nonchalance seines Vortrags, eine Art Song gewordenes Pendant zum verschmitzten Grinsen. In den Songs von Chuck Berry geht es um die Mobilität der jungen Babyboomer-Generation, um das Aufbegehren gegen Elternhaus und Autoritäten, aber auch um Lust auf Konsum und um eine Begegnung zwischen Schwarz und Weiß. „She’s got the grown-up Blues / Tight dresses and lipstick / She’s sportin’ high heel shoes / Oh, but tomorrow morning / She’ll have to change her trend / And be sweet sixteen / And back in class again“, singt Chuck Berry in „Sweet little sixteen“, veröffentlicht 1958.
Eine Gratwanderung zwischen Frust und Erregung, Aufbegehren und Anpassen: Chuck Berry feierte darin die Triumphe und beklagte die Niederlagen eines Teenagerlebens der Fünfziger. 22 Jahre war Chuck Berry alt, als er diesen Song komponierte. An die 20 Hits hatte Chuck Berry zwischen 1956 und 1960, viele davon platzierten sich in den Top Ten der Charts. Er war ein Idol der Jugend, trat auch in sogenannten Halbstarken-Filmen auf der Leinwand auf, etwa in „Mr. Rock ’n’ Roll“ und „Go Johnny Go“.
Man sollte trotzdem in Erinnerung rufen, wie schwierig die Begegnungen zwischen Schwarz und Weiß in den segregierten USA der Fünfzigerjahre im Alltagsleben waren. Schwarze durften im Kino nur auf den billigen Plätzen sitzen. Die Schranken durchbrach erst die Musik.
Sehnsucht nach einem sorglosen Leben
Insofern war es mehr als nur die Sehnsucht nach einem sorglosen Leben, die aus Berrys Song „You never can tell“ (1960) spricht. Die beiden Lover einer Teenagerliebe sind mit einem Auto auf der Flucht, sie wollen neu anfangen in einer eigenen Wohnung und mit einem Kühlschrank voller Ginger Ale. „They bought a souped-up jitney, ‚twas a Cherry Red ’53 / They drove it down to Orleans to celebrate the anniversary / It was there that Pierre was married to the lovely mademoiselle / ,C’est la vie‘, say the old folks, it goes to show you never can tell“. Balladesker, sanftmütiger als sonst klingt Chuck Berry und das hatte einen ernsten Hintergrund.
1959 machte er sich strafbar, als er ein minderjähriges Mädchen in einen Nachtclub seiner Heimatstadt St. Louis vermittelt hatte. Das aus Mexiko stammende Mädchen wurde nach zwei Wochen entlassen und ging zur Polizei. Berry wurde daraufhin zu fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 5.000 US-Dollar verurteilt. Da die Jury ausschließlich aus Weißen bestand und der Haftrichter einige rassistische Bemerkungen bei der Urteilsverkündung fallen ließ, reduzierte man 1961 die Haftstrafe auf zwei Jahre.
Berry war hinterher nicht mehr derselbe. Seiner Popularität tat der Gefängnisaufenthalt allerdings keinerlei Abbruch. Wenngleich die Rock-’n’-Roll-Welle in der Zwischenzeit verebbt war, coverten junge Künstler wie die Beatles und die Rolling Stones Songs von Chuck Berry. Auch Bob Dylan nahm sich für seinen Song „Subterranean Homesick Blues“ 1965 das Chuck-Berry-Original „Too Much Monkey Business“ zum Vorbild.
Und Chuck Berry selbst erhielt aufgrund der anhaltenden Popularität seiner alten Songs neue Plattenverträge. Er war einer der ersten Künstler, deren Karriere als Retrophänomen interessant wurde. Etwa 1972, als er in London das Album „The London Chuck Berry Sessions“ aufnahm. Ebenso 1986, als Keith Richards zu Ehren von Chuck Berry in St. Louis ein Tribute-Konzert veranstaltete, bei dem viele Stars auftraten.
Daraus entstand dann auch ein von Keith Richards produzierter Konzertfilm und Berry schrieb eine Autobiografie namens „Hail! Hail! Rock ’n’ Roll“. Dieser Schlachtruf überstrahlt auch allen sonstige Unbill im Leben des Chuck Berry. „Chuck Berry war möglicherweise der beste aller Rocker“, schrieb der britische Kulturkritiker Nick Cohn. „Er schrieb unermüdlich Texte über Teenager-Romanzen, aber er sang sie mit einem grimmigen augenzwinkernden Zynismus.“
Nun ist die Teenager-Zeit endgültig vorbei: Am Samstag ist Chuck Berry gestorben; er wurde 90 Jahre alt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag