Nachruf auf Chantal Akerman: Sie filmte einfach hinein ins Treiben
Ihre Filme waren eigenwillig und von einem hypnotischen Sog. Mit 65 Jahren ist die belgische Regisseurin Chantal Akerman gestorben.
Das Buch, das die Filmwissenschaftlerin Ivone Margulies Mitte der 90er Jahre über Chantal Akerman herausgegeben hat, trägt den Titel „Nothing Happens“. Er soll eine Anspielung darauf sein, dass in Akermans Filmen gemeinhin nicht viel passiert. Das stimmt. Und es stimmt natürlich nicht. „Chantal Akerman‘s Hyperrealist Everyday“, so heißt das Buch weiter. Das verrät schon ein wenig mehr.
Die 1950 in Brüssel geborene Belgierin hat in vielen ihrer Filme Alltag vermessen. Ihren eigenen. Aber auch den Fremder. Eine Fremde hat es über das Akerman-Universum hinaus zu einiger Berühmtheit gebracht in ihrem Film „Jeanne Dielman“, gespielt von Delphine Seyrig. 1975 beschäftigte sich die Regisseurin in über 200 Minuten mit jener Dame aus dem Haus 23 quai du Commerce in Brüssel, zeigte sie beim Kochen von Kartoffeln, Putzen und schließlich in der Eskalation. Lange passiert nichts. Und dann: ein Knall.
Ein Knall ist auch die Nachricht von Chantal Akermans Tod im Alter von fünfundsechzig Jahren in Paris. 2011 ist ihr letzter Film erschienen, „La Folie Almayer“, ein Drama basierend auf einer Erzählung Joseph Conrads. Über vierzig Dokumentar-, Spiel- und Essayfilme konnte Akerman seit 1968 realisieren.
Selbstversuche in einem Hotelzimmer
Viele bestechen durch ihren Mut, ihre Eigentümlichkeit, ihre, im besten Sinne, Fadheit. Inhaltlich wie formal. Das Filmstudium begann die damals noch nicht einmal volljährige Akerman 1967 in Brüssel. Sie brach es bald ab. Studierte in Paris. Ging nach New York. In dieser Zeit sind Filme wie „La chambre“ (1972) entstanden. Oder „Hotel Monterey“ (1973). Selbstversuche, in denen Akerman sich über mehrere Tage in ein karges Zimmer einschloss, ständig nackt war, raffinierten Zucker zu sich nahm, den sie mit einem großen Löffel direkt aus der Tüte holte.
„Hotel Monterey“ geht auf eigensinnige Weise Hotelflure ab. Schleicht sich in Zimmer. Die Kamera fährt Fahrstuhl. Wunderbare Perspektiven. Akerman ist es gerade in ihrer frühesten Schaffensperiode gelungen, einen eigenen Stil zu definieren. Einen Stil, der sonderbar changiert zwischen präziser Arbeit und dem Zufall, für den immer noch gerade genügend Platz da war.
Ein schönes Beispiel hierfür ist „News from Home“ (1977), auch er ein Vertreter der New-York-Zeit. Akerman verliest Briefe ihrer Mutter. In ihnen immer wieder dieselbe Beschwerde: die Tochter meldet sich nicht. Das Klagen der Mutter unterlegt Chantal Akerman mit Bildern Manhattans. Die Subway, die Avenues, die Yellow Cabs. Akerman filmt einfach hinein ins Treiben. Und erwischt dabei so manch besonderes Gesicht, bemerkenswerte Geste, skeptischen Blick.
Bewohner einer russischen Trabantenstadt
Zufall ist auch, dass ich meinen ersten Akerman-Film in New York gesehen haben: „D‘Est“ (1993). Und der hypnotische Effekt, der von ihm ausging, ist mir noch sehr präsent. Über endlose Minuten beobachtete Akerman unter anderem das stete, unfassbar träge Pendeln von Bewohnern einer russischen Trabantenstadt. Plattenbauten, Bahnhofshallen, Frost, Schnee, die Abwesenheit von Sonne, die fortwährend leuchtenden Straßenlaternen. Ein schweres Leben. Vor dem Kino aber war der Sommer. Und Akermans „D‘Est“ klang lange nach.
Chantal Akerman soll gesagt haben, dass sie sich im Alter von fünfzehn Jahren dazu entschloss, Filmemacherin zu werden, nachdem sie „Pierrot le fou“ von Godard gesehen hat. Hier war es Ferdinand Giffron (Jean-Paul Belmondo) erlaubt, aufgrund eines Kriminalfalls die bürgerlichen Fesseln zu durchschlagen, es mit so etwas wie Freiheit zu versuchen.
Es ist eine schöne Vorstellung, dass jene Geschichte Chantal Akerman veranlasste, zur Kamera zu greifen, um Filme zu machen, mit deren Hilfe sie sich selbst befreite. Ein seelischer Ausdruck, der bleibt.
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