Nachruf auf Auschwitz-Überlebenden: Die zwei Leben des Justin Sonder
Justin Sonder sagte, er sei zweimal geboren worden. Einmal 1925 in Chemnitz und dann 1945 in Bayern, wo er von der US-Armee befreit worden ist.
Wetterfeld liegt in der bayerischen Oberpfalz, nicht allzu weit von der tschechischen Grenze entfernt. Das kleine Dorf befindet sich direkt an der vierspurig ausgebauten Bundesstraße 85. Es gibt dort eigentlich nichts Besonderes zu sehen. Etwas abseits, nahe einer bewaldeten Anhöhe, steht ein großes Kreuz. Daneben befinden sich drei geschnitzte hölzerne Tafeln, eine trägt ein lateinisches Kreuz, die andere ein russisches. Auf der dritten Tafel ist ein Davidstern abgebildet. Darunter steht geschrieben: „Im Landkreis Roding beim Todesmarsch von Flossenbürg nach Wetterfeld im April 1945.“
Es ist dies der Ort, von dem Justin Sonder sagte, er sei hier zum zweiten Mal geboren worden, am 23. April 1945. Der damals 19-Jährige befand sich seit Tagen zusammen mit mehr als 3.000 Gefangenen auf einem Gewaltmarsch in Richtung Süden, vom KZ Flossenbürg in Richtung Dachau, bewacht von SS-Männern. Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde erschossen.
In Wetterfeld endete dieser Todesmarsch für Sonder wie für viele andere Häftlinge. Stunden zuvor hatte die SS noch etwa 50 geschwächte Gefangene in einem nahen Waldstück erschossen. Dann verschwanden die SS-Männer, es erschienen die Panzer der US-Army. Justin Sonder war frei, nach vier Jahren Zwangsarbeit, Haft und Todesangst.
Ein Leidensgenosse schlug Sonder damals vor, zusammen mit ihm nach Frankreich auszuwandern, denn in Deutschland könne man nicht mehr leben. Sonder lehnte das Angebot ab. Ihn zog es zurück in seine Heimatstadt, nach Chemnitz in Sachsen. Auf dem Weg dorthin traf er durch puren Zufall im bayerischen Hof seinen Vater Leo, der ebenfalls die Verfolgung überlebt hatte. Seine Mutter sah er nie wieder: Cäcilie Sonder wurde von den Nazis ermordet, so wie 21 weitere Familienmitglieder.
Jüdisches Leiden und die DDR
Zwanzig Jahre lang hat Justin Sonder über seine Zeit in den Konzentrationslagern, die Zwangsarbeit und den Todesmarsch nicht gesprochen. Er arbeitete zuerst als Schutzmann bei der Polizei, dann als Wachtmeister und begann schließlich eine Karriere bei der Chemnitzer Kripo. Er traf seine spätere Frau, heiratete, aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Ein neues Leben, mit FDJ-Mitgliedschaft und SED-Parteibuch begann, „für einen besseren Staat“, aber ohne Verbindungen zur Stasi, wie er in einem Gespräch mit dem Autor einmal betonte.
Mit denen habe er nichts zu tun haben wollen im heimatlichen Chemnitz, das 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde. Sein bedeutendster Fall? „Das war die Aufklärung eines Mordes an einer Lehrerin. Sie war erdrosselt worden.“ Nach etwa 35 Stunden der Vernehmung, um 4.15 Uhr am Morgen, gestand der Täter.
Sonders zweites Leben war eines auf der Seite des Staats und nahe den Kommunisten, denen er so viel zu verdanken hatte, damals in Auschwitz. Doch über dieses Kapitel seines Lebens schwieg Sonder lange. Jüdisches Leiden war im antifaschistischen Staat, wie sich die DDR nannte, nicht allzu hoch geschätzt, jedenfalls im Vergleich zum kommunistischen Widerstand.
Doch die Vergangenheit kehrte zurück. Im September 1987 stand in Dresden der frühere örtliche Gestapochef Henry Schmidt vor Gericht, der unter anderem für Judendeportationen aus Dresden verantwortlich gewesen war. Einer der Zeugen in diesem Prozess trug den Namen Justin Sonder.
Späte Anerkennung
Erst nach der Wende in der DDR aber kam wirkliches Interesse für das erste Leben von Justin Sonder auf. Als Zeitzeuge wurde er von Schulen eingeladen, um über seine Verfolgung zu berichten. Über 500 Auftritte sammelten sich an, bei denen der alte Mann versuchte, den Kindern und Jugendlichen deutlich zu machen, welche Verbrecher bis 1945 an der Macht gewesen waren – und wie wichtig es sei, gegen Neonazis aufzustehen. Diese Auftritte waren für den zurückhaltenden und freundlichen Mann, der so gar nicht dem Fernsehbild eines Kriminalkommissars entsprach, auch eine späte Anerkennung.
Sonder hatte einiges zu berichten bei seinen Schulbesuchen und Auftritten vor Gericht. Schon 1941 musste der Kochlehrling in einem Rüstungsbetrieb als Zwangsarbeiter schuften. Der Familie wurde die Wohnung genommen, sie mussten in einem einzigen Raum in einem der Chemnitzer „Judenhäuser“ unterkommen. „Im Mai 1942 wurden meine Eltern abgeholt und ins Konzentrationslager gebracht. Von da an war ich auf mich selbst gestellt“, erzählte er.
Am 27. Februar 1943, dem Tag der „Fabrikaktion“, als die Gestapo die jüdischen Zwangsarbeiter reichsweit festnahm, kam Justin Sonder zuerst in das Judenlager Hellerberg bei Dresden und wurde von dort nach Auschwitz deportiert. Er kam ins Lager Auschwitz III Monowitz, Block 10.
63 Jahre später, bei dem Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning in Detmold 2015 bis 2016, erinnerte sich ein weißhaariger Mann mit Schiebermütze auf dem Kopf an die Selektion beim Eintritt in das Lager Auschwitz. Die SS-Männer hätten nach Alter und Beruf gefragt. „Ich habe mitbekommen, dass, wenn einer sagte, er sei Gärtner, er nach rechts geschickt wurde. Bei einem Maurer nach links. Ich ging vor: ‚17 Jahre, Monteur.‘“ Sonder wurde nach links geschickt und durfte weiterleben, als Arbeitssklave, Häftlingsnummer 105027. Sechzehn weitere Selektionen sollten folgen.
Widerstand im Konzentrationslager
In Monowitz erlebte Justin Sonder aber auch, was Solidarität bedeutete. Ein Arzt, selbst Häftling, rettete ihn vor der Ermordung, als er arbeitsunfähig zu werden drohte. „Ich ging ins Krankenrevier zum SS-Arzt Dr. Fischer. Der malte mir mit Jod ein Hakenkreuz auf eins meiner Knie und sagte: ‚Geh in Block sowieso, wahrscheinlich musst du operiert werden‘ Dort haben sie mein Knie geöffnet, ohne Narkose. Vier Häftlinge hielten mich fest, einer stopfte mir ein Stück Stoff in den Mund, damit ich nicht schreien konnte. Am nächsten Morgen: Selektion. Ich bin angehalten worden, das war schlecht. Dann kam die Handbewegung, das war noch schlechter. Dann wurden die Nummern aufgerufen. Meine war nicht dabei! Der Häftlingsarzt hatte mit der SS gesprochen und mich gerettet.“
Eine kommunistische Widerstandsgruppe unter den Gefangenen nahm sich des Jungen an. Sonders einzige Aktion: Er verhinderte die Entladung von Granulat von einem Lkw. Eine nur scheinbar banale Angelegenheit: Denn wäre Sonder dabei entdeckt worden, hätte es ihn das Leben gekostet. Es war ein Akt des Widerstands unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers.
Als sich die sowjetischen Truppen Anfang 1945 Auschwitz näherten, gehörte Justin Sonder zu den Tausenden Häftlingen, die auf einem Todesmarsch bei eisiger Kälte nach Gleiwitz geschickt wurden. Von dort ging es in offenen Kohlenwaggons der Reichsbahn Hunderte Kilometer weiter bis ins KZ Flossenbürg in der Oberpfalz.
Justin Sonder hat diese Geschichten immer wieder erzählt, ohne müde zu werden. Inzwischen Ehrenbürger seiner Heimatstadt, ging es ihm dabei ganz besonders darum, junge Menschen vor den Sprüchen von Neonazis und Rechten zu warnen.
Am 3. November ist Justin Sonder in Chemnitz verstorben. An diesem Mittwoch wird er beerdigt.
Wenn Sie einmal nach Wetterfeld kommen sollten, dann biegen Sie doch in Richtung des kleinen Hügels ab, dorthin, wo das Kreuz und die drei geschnitzten Gedenktafeln stehen. Sie erinnern daran, dass nur einige Hundert Meter entfernt im Frühjahr 1945 597 auf dem Todesmarsch vom KZ Flossenbürg ermordete Gefangene eilig verscharrt worden sind, darunter die 50, die die SS im nahen Wald erschoss. Sie hatten nicht das Glück von Justin Sonder, der dem Tod entkam und 95 Jahre alt geworden ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden