Nachruf Freejazz-Pionier Peter Brötzmann: Auflösung der Gestaltungsprinzipien
Der Saxofonist Peter Brötzmann ist tot. Freejazz hat er hierzulande als eigenständige Kunstform gegen große Widerstände etabliert. Eine Verneigung.
Peter Brötzmann ist tot. Das zuletzt Befürchtete und unendlich Traurige ist eingetreten, der Initiator, kompromisslose Erneuerer und große Lyriker des europäischen Free Jazz ist – und man möchte es nicht, kann es nicht glauben – verstummt. Noch vor wenigen Tagen sagte Peter Brötzmann im Gespräch, er müsse sein Leben neu denken, da er aus gesundheitlichen Gründen absehbar nicht mehr in der Lage sei, zu spielen.
Und seine Bilder, Skulpturen, Zeichnungen und Holzschnitte seien immer in Wechselwirkung zur Musik entstanden. Das eine ohne das andere: undenkbar für den, der den freien Jazz in Deutschland und Europa, zuletzt mit seinem „Chicago Tentet“ auch in den USA geprägt hat. Seine letzten Auftritte waren im November 2022 auf dem Berliner JazzFest und im Januar eine dreitägige Konzertreihe im Londoner Café Oto.
Geboren 1941 in Remscheid, spielte er als Autodidakt Klarinette und Saxofon in der Schule und in diversen Dixieland-Bands, bevor er mit 17 Jahren an die Werkkunstschule nach Wuppertal ging und in der Galerie Parnass Assistent des Fluxus-Künstlers Nam June Paik wurde. Prägend war auch die Begegnung mit dem US-Trompeter Don Cherry, der Brötzmann den Spitznamen „Machine Gun“ gab, Titel seines gleichnamigen Albums von 1968, der ersten und bis heute bahnbrechendsten Aufnahme des europäischen Free Jazz.
Fliegende Bierdosen
Cherry hatte Brötzmann 1966 eingeladen, mit seinem Quintett im Pariser Jazzclub „Le Chat Qui Pêche“ zu spielen. Im gleichen Jahr tourte er mit dem Ensemble von Carla Bley und Mike Mantler und trat beim Deutschen Jazz Festival in Frankfurt auf. Schon nach wenigen Minuten wurde der Stecker gezogen, es flogen Bierdosen. Trotzdem spielte das Trio mit Peter Kowald und Pierre Courbois sein Konzert zu Ende. Brötzmann erinnerte sich, es sei hier nicht nur um eine zaghafte Ausweitung traditioneller Gestaltungsprinzipien gegangen, sondern um deren Auflösung.
Ende 1966 gründete er gemeinsam mit Kowald die Zeitschrift „SOUNDS – Die Zeitschrift für neuen Jazz“ und die „New Jazz Artists Guild N.J.A.G.“, um unabhängig von Musikkonzernen und Konzertagenturen zu sein. Seine beiden ersten Aufnahmen „For Adolphe Sax“ 1967 und „Machine Gun“ 1968 erschienen auf dem eigenen Label „BRÖ“.
1967 hatte Brötzmann für einen weiteren Auftritt auf dem Deutschen Jazzfestival in Frankfurt die „Machine Gun Band“ gegründet, ein Nonett aus europäischen Musikern wie dem holländischen Schlagzeuger Han Bennink und dem englischen Saxofonisten Evan Parker.
Angelehnt an Lionel Hamptons Bigband
Angelehnt an Lionel Hamptons Bigband mit vier Tenoristen, zwei Drummern, zwei Kontrabassisten und einem Pianisten. „Machine Gun“ veränderte die Jazz-Wahrnehmung grundlegend und spiegelte den politischen Aufruhr vor dem Hintergrund der Nichtaufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland, dem Vietnamkrieg und der Bürgerrechtsbewegung in den USA. 1968 sagte Brötzmann dem SPIEGEL „Eine brutale Gesellschaft, die Biafra und Vietnam zulässt, provoziert natürlich auch eine brutale Musik“.
1968 war er Mit-Initiator des Total Music Meetings als Gegenfestival zu den Berliner Jazztagen, und gründete 1969, gemeinsam mit Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach und Jost Gebers, die Plattenfirma FMP – Free Music Production, die in den 1970er und 1980er Jahren maßgeblich vor allem die europäische und internationale Freie Improvisation dokumentierte. Mit Keiji Haino und im Trio „Full Blast“ spielte er Heavy Metal, 1997 gründete er sein bis zuletzt bestehendes, frei improvisierendes, „Chicago Tentet“.
Peter Brötzmann hinterlässt über einhundert Aufnahmen, vom Solo bis zum Großensemble. Er sagte, zu Beginn seien es Paik in der bildenden Kunst und Don Cherry in der Musik gewesen, die ihm gezeigt hätten, dass es keine Grenzen gibt und nichts, was man nicht kann oder nicht darf. Zuletzt war er es, der dieses Wissen weitergegeben hat. Du wirst fehlen Peter!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag