Nachhaltiger Tourismus im Iran: Ein Dorf erschafft sich neu
Ein Erdbeben zerstörte das Dorf Esfahk. Die Bewohner:innen entschieden sich für den Neuaufbau mit einem nachhaltigen Ansatz.
Aufbauen oder einreißen? Vor diese Frage sehen sich 550 Kilometer südöstlich von Teheran die Einwohner von Esfahk gestellt, als der Erhalt des alten Dorfkerns 2009 Thema im Ort wird. Elf Jahre später ist das Esfahk Historical Village heute eine kleine Erfolgsgeschichte aus der iranischen Provinz. Initiative, Dialogbereitschaft und fachliche externe Beratung haben aus einem anfänglich zähen Ringen ein Zukunftsmodell mit Vorbildfunktion für eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Gebiete in Iran gemacht.
Wo wir uns, durch Covid-19 auf uns selbst zurückgeworfen, gerade wieder vermehrt mit der Frage beschäftigen, wie eine lebenswerte Zukunft aussehen soll, hält uns das Projekt ebenso vor Augen, dass Krisen der rechte Zeitpunkt sind, um gewohnte Strategien zu hinterfragen. Und dass solche Neuorientierungsprozesse Zeit brauchen und Energie kosten, dass es sich aber lohnt, weil gesellschaftlicher Zusammenhalt am Ende elementar für ein gutes Leben ist.
Von der Nationalstraße 68 aus sind die Reste des Oasendorfs Esfahk gut sichtbar in einen kleinen Palmenhain eingebettet. Nur manchmal halten Vorbeifahrende der Kulisse wegen für ein Foto. Im Sommer wird es hier, wo die beiden großen iranischen Wüsten Kawir und Lut einander treffen, tagsüber 48 Grad heiß. 1978, wenige Monate vor der Iranischen Revolution, trifft ein Erdbeben der Stärke 7,4 den Ort, 82 Menschen kommen damals ums Leben. Die restlichen rund achthundert Bewohner:innen beziehen neue, staatlich geförderte, fein gereihte Häuser mit modernem Komfort, rund siebenhundert Meter vom alten Ortskern entfernt. Das alte Esfahk bleibt sich selbst überlassen.
Niemand denkt ernsthaft daran, wieder in das alte Dorf zurückzukehren. Auch Mohsen Mehdizade (34) nicht, den es wie viele Gleichaltrige für das Studium in die Millionenmetropole Maschhad gezogen hat. Das Leben auf dem Land bietet jungen Menschen wenig Perspektiven in Iran. Während der letzten drei Jahrzehnte zog es jedes Jahr etwa 1 Million Menschen in die Städte. Laut einer Volkszählung von 2017 leben 74 Prozent der etwa 80 Millionen Iraner:innen in urbanen Ballungsräumen, 2011 waren es 71 Prozent. Gründe für die anhaltende Migration gibt es viele: Übernutzung der Böden, die internationalen Sanktionen sowie eine hohe Jugendarbeitslosenquote spielen eine Rolle.
Schwieriger Anfang
Bei dem Besuch seiner Familie hört Mohsen, dass die Leute damit begonnen haben, ihre Häuser im alten Dorfkern einzureißen, um Platz für Farmland zu schaffen. „Mein Cousin hatte sein Haus bereits eingerissen, mein Vater dachte ebenfalls darüber nach. Ich habe das Erdbeben ja selbst nicht miterlebt, aber als wir noch Kinder waren, da haben wir die Geschichten der Älteren über das Leben früher gehört, ich hatte plötzlich das Gefühl, dass wir das stoppen müssten.“
Er sucht Rat bei Freunden und beim Bürgermeister von Esfahk. Hamid Hosseini-Moghaddam (53) ist ein umtriebiger Mensch, war für 20 Jahre Leiter der örtlichen Schule, kennt die Leute im Dorf. Obwohl als Elfjähriger selbst über Stunden unter den Trümmern seines Elternhauses begraben, hat auch er in dem alten Dorfkern stets mehr gesehen, als einen Acker oder einen Unterschlupf für zwielichtige Gestalten bei Nacht.
Mohsen rennt bei ihm offene Türen ein. Der Anfang gestaltete sich gleichwohl schwer, erinnert sich Hamid: „Wir haben schon früh über die Möglichkeit einer touristischen Nutzung der Gebäude nachgedacht, doch die meisten im Ort sahen anfangs überhaupt keinen Wert in der Idee, ihre alten Häuser wiederherzustellen.“
Wer wollte es ihnen verdenken? Die Rekonstruktion eines Lehmhauses kostet umgerechnet etwa 8.000 bis 10.000 Euro, ein vielfaches des lokalen monatlichen Einkommens, viel Geld in der iranischen Provinz. Zumal ein Neubau in der Stadt eine sichere Investition darstellt. Auch hatten viele der Älteren aus Furcht ihre Häuser seit dem Erdbeben nicht mehr betreten.
Verblüffend gute Bausubstanz
Die Wende bringt, wie so oft, der Zufall. Faramarz Parsi (56) ist ein auf die Sanierung von Altbauten spezialisierter Architekt. Im Frühjahr 2015 ist der Universitätsdozent aus Teheran unterwegs von Tabas nach Birjand, als er auf einen Infostand aufmerksam wird, den Mohsen zusammen mit ein paar Freunden während der iranischen Neujahrsferien am Straßenrand aufgebaut hat. „Ich war verblüfft von der gut erhaltenen Bausubstanz, mehr noch aber vom Engagement der Leute, also gab ich Mohsen meine Telefonnummer und nach den Ferien erhielt ich seinen Anruf.
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Seither begleitet Faramarz das Projekt. Er unterstützt Mohsen und Hamid dabei, Esfahk als nationales Kulturerbe zu registrieren, spricht im Dorfrat über erdbebenresistente Restaurationsmethoden, weckt mit seiner Expertise Interesse, eckt als Außenstehender in den Diskussionen an und hält sie doch mit am Laufen.
Der Durchbruch gelingt, als die Dorfgemeinschaft sich darauf einlässt, ein kleines Forschungszentrum für Lehmbau in der ehemaligen Dorfschule einzurichten, um verschiedene Restaurierungsmethoden zu testen und Karten des alten Ortskerns anzufertigen.
Restauration als sozialer Erneuerungsprozess
Bei den gemeinsamen Arbeiten wird klar, wie eng die alten Lehmbauten und die von den Zeitzeugen überlieferte Lebensweise in dem alten Dorf zusammenhingen. „Die Jungen befragten ihre Eltern und Großeltern über die Funktionen der einzelnen Räume in den alten Häusern und die Leute fingen an, alte Bräuche und Spiele wiederzubeleben, was jedes Mal eine große Freude im Ort auslöste“, erinnert sich Faramarz an den Beginn der Restaurierungsarbeiten.
Lehm sei eine großartige Bausubstanz, nachhaltig und in jede Gestalt formbar – aber die Gebäude bräuchten Pflege und das bringe eigene Rhythmen, Bräuche, eine eigene Kultur hervor. „In Esfahk ist diese Kultur ohne die alte Dorfstruktur ein Stück weit in Vergessenheit geraten. Der Schlüssel war also, beides wiederzubeleben, die Architektur zusammen mit der dazugehörigen Kultur.“
Fünf Jahre nach Baubeginn und zehn Jahre nach Beginn der Diskussionen sind heute sieben Lehmhäuser im historischen Ortskern für Gäste hergerichtet; das Esfahk Historical Villageist ein klug strukturiertes Gemeinschaftsunternehmen.
Das Team der Eco-Lodge besteht je nach Saison aus 30 bis 70 Beschäftigten. Von den Einnahmen profitieren aber ebenso die Bauern, der Bäcker oder der lokale Supermarkt. Die anfallenden Arbeiten verrichten Dorfteams, in denen sich die Dorfbewohner*innen je nach Bedarf, Kompetenz und Interesse engagieren: Restauration, Reservierung und Buchhaltung, Restaurant, Hauswirtschaft, dazu das traditionelle Badehaus, Kunsthandwerk sowie soziale Projekte.
Am Gemeinwohl orientiert
Die Wiederbelebung des historischen Esfahks, seiner Kultur, Tradition und Bräuche ist vereinbartes Ziel. Ökonomisches Wachstum dagegen ist an das Prinzip der Reziprozität und den gemeinschaftlichen Nutzen gebunden. Was wie ein Lehrsatz aus der Gemeinwohlökonomie klingt, richtet sich tatsächlich nach der eigenen Tradition.
Über Jahrhunderte erforderte das Leben in der Wüste Anpassung und förderte bestimmte ökonomische und soziale Verhaltensweisen: Eine am Gemeinwohl orientierte Entscheidungsfindung zum Beispiel oder eine kreislaufartige Wirtschaftsweise – darauf ausgerichtet, die gerechte Verteilung der knappen Ressourcen für alle zu fairen Anteilen und über einen langen Zeitraum zu sichern.
Auszeichnung Das Esfahk Historic Village wurde 2020 mit dem TO DO Award für sozial nachhaltigen Tourismus des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung ausgezeichnet.
Weitere Infos über das Projekt sowie für Ihre individuelle Anreise und weitere Buchungsmöglichkeiten erhalten Sie beim Reisefachveranstalter Irancloser, Hamminkeln, Tel. (0 28 52) 27 01, info@irancloser.com, www.irancloser.com
Kürzlich haben die Einwohner ihr Projekt als private Aktiengesellschaft registriert und einen Verwaltungsrat gewählt – Frauen und Männer waren gleichermaßen stimmberechtigt. Die gerechte Verteilung der durch das Projekt generierten Einnahmen unter den Beteiligten regelt ein gemeinsam erarbeiteter Finanzplan.
„Aber es geht nicht allein ums Geld“, meint Zohre Heidarzade (30). „Mir gefällt die Arbeit hier, weil es mir das Gefühl gibt, etwas Sinnvolles zu tun.“ Zohre zog 2017 mit ihrem Mann und den Kindern von Maschhad zurück in ihr Heimatdorf, „um Teil des Projekts zu werden“, wie sie sagt. Zusammen mit dreißig anderen Frauen gründete sie das Handarbeitsteam, recherchiert traditionelle Designs und erarbeitet eigene Marketingstrategien. Jeden Abend diskutiere sie mit dem Team, wie die Produkte verbessert und der Verkauf angekurbelt werden können. Manchmal gehe das bis Mitternacht. „Ich ermutige jeden im Dorf, sich hier einzubringen, meine Tochter und auch meinen Mann, der in einer Siliziummine arbeitet.“
Im vergangenen Jahr besuchten rund 3.500 Gäste das Dorf. Dennoch soll Tourismus nicht zur Haupteinkommensquelle für die Einwohner:innen werden, niemand arbeitet Vollzeit. Ein Leben in der Wüste hat neben sozialen eben auch natürliche Limits. Die sollten erst einmal evaluiert werden, findet Mohsen, der kürzlich zum CEO des Projekts gewählt wurde. Jetzt, da die Touristen wegen des Covid-19-Virus ausbleiben, kümmert er sich vermehrt um die Bestellung der Familienfelder. „Wir schließen die Restauration des achten Hauses in den kommenden Monaten noch ab, aber dann war es das erst einmal.“
Das Wichtigste hätten sie bereits erreicht: „Heute sprechen die Leute anders. Wir wissen jetzt, dass unsere Lebensart wertvoll ist, wir haben eine Perspektive, einen Grund zu bleiben.“
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