Nachdem die Große Koalition in Österreich gescheitert ist, konkurrieren die politischen Parteien endlich wieder miteinander: Mehr Politik wagen
Es ist, als hätte sich auf einmal ein Fenster geöffnet. „Ein Glückstag für Österreich“ sei dieser 21. Januar gewesen, kommentierte etwa der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Plötzlich stehen zwei klare, unterscheidbare politische Konzepte gegeneinander; plötzlich ist das Politische sensu strictu – Politik in der Dimension des Konflikts – nicht mehr von der populistischen radikalen Rechten monopolisiert. Jetzt wird endllich wieder mehr Politik gewagt.
Was war geschehen? Österreichs Sozialdemokraten hatten etwas Unerhörtes getan. Sie hatten die Wahl: eine Fortsetzung der Großen Koalition mit der konservativen Volkspartei, mit dem einzigen Ziel, Jörg Haider von den Regierungsbänken fern- und auch im 30. Jahr ein paar Zipfel der Macht sicher in den Händen zu halten; oder den Weg des Risikos zu gehen, die letzten Spurenelemente ihrer sozialdemokratischen Identität und ihre Würde zu verteidigen.
In einer nächtlichen Krisensitzung, zwischen Mitternacht und 3.29 Uhr des vergangenen Freitags, trafen die Sozialdemokraten die Entscheidung, die ihnen niemand mehr zugetraut hatte. Sie erklärten die Verhandlungen mit den Konservativen für gescheitert, auch auf die Gefahr hin, dass diese nunmehr schnurstraks und mit allen Mitteln eine Regierungsbildung mit den Freiheitlichen anstreben. Allenfalls auf den Bundespräsidenten, den seiner Partei längst entfremdeten Christdemokraten Thomas Klestil, kann Viktor Klimas Sozialdemokratie noch bauen; der SPÖ-Chef wird nun mit der Bildung einer Minderheitsregierung betraut. Da die Rechte im Parlament jedoch über 60 Prozent der Sitze verfügt, könnte sie eine solche Regierung jederzeit stürzen.
Jetzt ist tatsächlich, nach einem 14-jährigen Aufstieg des Rechtspopulismus, so etwas wie der Entscheidungskampf angebrochen; die Chancen, dass die Linke diesen gewinnt, sind zwar nicht überwältigend groß, sie sind aber – auf Grund der starken Stellung, die die Verfassung dem Präsidenten verleiht – wenigstens gegeben. Denn die vereinten Rechtsparteien können einen Kanzler einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung zwar stürzen, sie können aber keineswegs kraft ihrer gemeinsamen Mehrheit einen neuen Kanzler wählen: denn den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt der Präsident; er muss auch das Kabinett vereidigen.
Präsident Thomas Klestil hat klar gemacht, dass er keine Regierungsbeteiligung der FPÖ akzeptieren würde. Deswegen würde ein Sturz einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung fast notwendigerweise zu Neuwahlen führen. An denen hat aber die Volkspartei, die sich mit ihren abenteuerlichen taktischen Spielchen um jeden Kredit im Volk gebracht hat, keinerlei Interesse – sie würde wohl total marginalisiert werden.
Dies könnte der Sozialdemokratie eine Frist einräumen, um eine Wende einzuleiten; die in fast eineinhalb Jahrzehnten Großer Koalition und daraus folgender technokratischer Staatsverwaltung innerlich ausgezehrte, entpolitisierte Partei muss sich jetzt zwangsläufig repolitisieren. Von der SPÖ werden jetzt keine Koalitionskompromisse in der Kabinettsarbeit verlangt, sondern ein sozialdemokratisches Programm, für das sie im Parlament um Mehrheiten werben muss. Die Sozialdemokraten müssen sich personell erneuern, denn graue Apparatschiks werden in einem Parlament, in dem sie keine Mehrheit haben, schlechter dastehen, als populäre Persönlichkeiten. Und sie müssen endlich den Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie wieder aufnehmen, denn wenn eine sozialdemokratische Minderheitsregierung Kredit im Volk hat, dann wird sich auch eine feindlich gesinnte Parlamentsmehrheit schwer tun, Klimas Truppe über die Klinge springen zu lassen.
Freilich ist die SPÖ für diese Auseinandersetzung denkbar schlecht gerüstet. Viktor Klima ist längst zur „lame duck“ geworden, ein entzauberter Kanzler ohne Konzept, von dem plötzlich Qualitäten verlangt werden, über die er bei weitem nicht verfügt; die Personalreserve der Sozialdemokratie ist freilich so dünn, dass sich keine Führungsalternative aufdrängt; und selbst unter den wenigen Nachfolgekandidaten finden sich welche, die sogar im Vergleich mit Viktor Klima noch ein Rückschritt wären – wie der rechtssozialdemokratische Law-and-Order-Mann Karl Schlögl, der als Innenminister bisher schon als „Haiders bester Mann in der Regierung“ gehandelt wurde.
Außerdem hat die SPÖ bis zuletzt daran geglaubt, sie könnte mit der Volkspartei eine Regierung bilden. Erst als deren Verhandlungsführer, nachdem sie die Sozialdemokraten bereits bis an die Grenze der Selbstaufgabe getrieben hatten, auch noch verlangten, sie müsse den Gewerkschaften das Rückgrat brechen und zudem noch das Schlüsselressort Finanzen aufgeben, zog die Parteiführung die Notbremse; Konzepte für ein prononciert sozialdemokratisches Reformprogramm, das das Land gerechter und moderner machen könnte, hat sie nicht. Ihren „New Deal“ für Österreich muss sie nun in aller Eile aushandeln und beschließen.
Denn viel Zeit bleibt jetzt nicht. Das Land steht buchstäblich auf der Kippe. Dass sich eine sozialdemokratische Minderheitsregierung länger als vier, fünf, allenfalls sechs Monate im Amt hält, können selbst ausgewiesene Optimisten nicht annehmen. Dann steht ein Wahlkampf an, wie ihn das Land bisher nicht gesehen hat. Ein Lagerwahlkampf mit einem rechten Block, in dem die rassistische Demagogenpartei FPÖ mit Abstand die dynamischere Kraft ist – und auf der anderen Seite eine ziemlich ramponierte Sozialdemokratie und die Grünen, die sich zwar im Aufwind befinden, dafür in Österreich aber traditionell zu Seltsamkeiten aller Art neigen. Ausgerechnet an diesem Wochenende haben sie öffentlich verkündet, dass sie „Opposition gegenüber jeder möglichen Regierung“ bleiben wollen. Die Grünalternativen müssen offenkundig erst einmal begreifen, wie dramatisch sich die politische Szenerie nun noch einmal – nach dem Einschnitt der Oktoberwahlen – verändert hat. Viel mehr Zeit als ein paar Tage wird wohl auch ihnen nicht zu geben sein.
Riskante Zeiten, kaum jemand wagt eine Prognose, wie all das eigentlich enden soll. Und doch ist es, als hätte jemand eine modrige alte Decke weggezogen. Mit einem beinahe heroischen Akt hat die alte Sozialdemokratie das fatale Setting, in dem es nur eine ungeliebte Große Koalition und eine aggressive rechte Opposition gab, aufgesprengt. Endlich wird wieder Politik gemacht. Mit radikal offenem Ausgang zwar; aber wenigstens mit dem Funken der Chance auf eine Tendenzwende.
Robert Misik
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