■ Nach ihrem Parteitag muss die SPD ihren Autismus überwinden und mit den Grünen endlich die versprochenen Reformen umsetzen: Bündnis für Gerhard
Die beiden deutschen Volksparteien sind derart mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen kaum Zeit bleibt, die jeweils andere mit dem üblichen Ritual abzufertigen. Die CDU murmelt zum SPD-Parteitag das Branchenübliche (Heuchelei, Wählerbetrug), aber auch die Sozialdemokraten finden kaum Zeit, die schwarzen Kassen des Herrn Kohl so richtig auszuschlachten (Ungeheuerlichkeiten, Verantwortungslosigkeit). Wenn es um Parteifinanzen geht, sitzen wohl alle in einem Boot, und wenn die Parteien keine gemeinsame Anstrengung unternehmen, den Augiasstall auszumisten, droht ihnen noch mehr Unheil. Deswegen das Ceterum censeo vorneweg: Bundespräsident und Bundestagspräsident sollen eine unabhängige Kommission berufen, welche die Parteienfinanzierung neu regelt und Transparenz sichert.
In der Tat stecken beide Großparteien in der gleichen Legitimationskrise. Selten zuvor haben ihnen die Bürger so misstraut, noch nie wurde Regierung und Opposition gleichermaßen so wenig zugetraut. Aber hier tut sich ein bedeutsamer Widerspruch auf: Der Ansehensverlust der beiden „Volksparteien“ hat nicht zur Stärkung ihrer kleineren Partner FDP und Grüne geführt, beide stehen vielmehr am parlamentarischen Abgrund. Am meisten gewünscht ist weiter die große Koalition.
Man kann diese Zuwendung contre coeur wohl so interpretieren: Die deutschen Bürgerinnen und Bürger erwarten offenbar, sofern sie überhaupt noch an Politik interessiert sind, dass jetzt etwas geschieht. Dass die ewigen Feiern der Deutschen Einheit und der ganze Millenniumsquatsch ein Ende haben – und wieder regiert wird. Gespart werden muss – aber wofür? Die Steuern müssen runter – aber wer zahlt notwendige Staatsausgaben? Gerechtigkeitslücken klaffen nicht nur zwischen Oben und Unten, Arm und Reich, sondern auch zwischen den Generationen – aber welche Aussichten haben Leute unter 30 und um die 15? Die durch Sparen wiedergewonnene Handlungsfähigkeit des Staates muss für eine Erneuerung von Bildung und Ausbildung und eine ökologische Modernisierung genutzt werden. Gerade dabei ist die rot-grüne Regierung noch kein Stück vorangekommen.
Daran gemessen ist die Beschäftigung der Großparteien mit sich selbst der eigentliche Skandal. Sie bekunden „Mut zur Zukunft“ und stehen „Mitten im Leben“, aber es scheint, als ob noch das Jahr 1990 geschrieben würde, als Helmut Kohl gegen Oskar Lafontaine wahlkämpfte. Beinahe autistisch wirkende Systeme tauschen miteinander Botschaften aus, die an den Erwartungen „der Gesellschaft“ vorbeigehen.
Dieser Realitätsverlust wäre kein großer Schaden, würde das politische System der Bundesrepublik nicht so elementar auf den Parteien, vornehmlich den beiden großen, aufbauen. Der Anti-Parteien-Affekt der sozialen Bewegungen ist sowohl Ende der Sechzigerjahre als auch nach 1990 rasch verflogen. Jede Fundamentalpolemik gegen die (Übermacht der) Parteien hat sich empirisch selbst erledigt, und zwar gleich doppelt: Der zivilgesellschaftliche Versuch, das Politische selbst in die Hand zu nehmen, endete im bekannten Marsch durch die Institutionen – und führte bald auch wieder aus ihnen heraus, da ja die Regulierungskapazität selbst mittlerweile zu guten Teilen aus dem Nationalstaat ausgewandert ist. Der zwangsläufige Effekt war: mehr symbolische Politik und weniger Wahlbeteiligung. Politisch Desinteressierte begreifen offenbar schneller, dass in diesem Spiel nicht mehr viel für sie drin ist; sie üben sich in Abstinenz, sofern sie „das System“ nicht mit rechts- oder linkspopulistischem Protest ärgern. Dort nämlich könnte der drohende Zerfall der beiden Großparteien enden, wie man an weniger konzentrierten und soliden politischen Systemen erkennen kann. Der Absturz der italienischen Christdemokraten ist das Menetekel der Union, die weit stärker von Filz und Korruption befallen ist, als man es für möglich halten wollte.
Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Parteitag nicht mehr als das Nötige getan: Sie stellten sich geschlossen hinter Gerhard Schröder. Sie waren zufrieden, dass alles nicht so schlimm gekommen ist, wie noch vor wenigen Wochen zu befürchten war: Lafontaine ist abgemeldet, Scharping hat noch einen Dämpfer bekommen, Müntefering ist der oberste Parteisoldat, der das schafft, was in der Bonner Baracke nie gelungen ist – diszipliniertes Politik-Marketing. Organisation: Regionalkonferenzen und Landesparteitage haben das Verhältnis zwischen Traditionspartei und Modernisierungskanzler austariert. Fraktion und Partei haben Schröders Sparkurs zu 86 Prozent akzeptiert. Fazit: Die Kanzlerwahlverein CDU ist tot, es lebe der Kanzlerwahlverein SPD. Es kann sogar sein, dass die beiden nächsten Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen nicht mehr verloren gehen. Und dann?
Als Erstes steht gleich das Bündnis für Arbeit an, dessen Erfolg Schröder zum Maßstab sozialdemokratischer Politik gemacht hat. Hier muss der Mann vom Bau mehr schultern als in der Sache Holzmann, hier müssen er und sein Team („Hans“ und „Walter“) zeigen, dass der aktivierende Staat keine bloße Floskel ist. Wenn dabei als nächster Schritt nur die „Rente ab 60“ scheiterte (oder gar beschlossen würde?), wäre das Bündnis paralysiert, wenn berechtigte Hoffnung auf mehr entsteht, wird das, wie es eine Zeitung ausdrückte, „Schröders Woche“. In so kurzen Zyklen denken mittlerweile nicht nur Zeitungsmenschen, sondern auch die politische Führung.
Und umgekehrt. Zukunftsfähig für die nächsten Monate und eventuell die ganze Legislaturperiode wird die Sozialdemokratie erst, wenn sie mit dem neuen Zuspruch für „Gerhard“ auch die Isolierung zu überwinden versucht, in die Partei und Regierung gegenüber der gesamten Gesellschaft geraten sind. Wenn das demoskopische Tief des „rot-grünen Projektes“ nicht dazu verführt, weiter auf dem kleineren Partner herumzutrampeln. Wenn endlich das in Jahrzehnten angehäufte Wissenskapital einer nahe stehenden, aber vor den Kopf gestoßenen Intelligenz genutzt wird, um im nächsten und übernächsten Jahr Reformen auf den Weg zu bringen und der berechtigten Erwartung zu genügen, dass eine Regierung effizient regieren solle.
Die SPD ist, trotz der wiedergewonnenen Popularität des Kanzlers, auf eine 30-Prozent-Partei abgemagert. Um aus dieser „strukturellen Minderheitsposition“ herauszukommen, muss sie Bündnispartner in der Gesellschaft suchen, ohne dabei vorrangig auf vermeintliche „Massenorganisationen“, die organisierten Verbände, zurückzugreifen. Sie muss echte Kooperation mit dem Koalitionspartner einüben, statt weiter mit ihm Wahlkampf um eine in den Siebzigerjahren abhanden gekommene Alterskohorte zu führen. Sie muss ihre akademiker- und intellektuellenfeindliche Beratungsresistenz aufgeben und potenzielle Zuarbeiter nicht in sterilen Grundwerte- und Programmkommissionen oder auf öden Panel-Diskussionen verhungern lassen. Dazu ist es allerdings auch notwendig, dass die originäre Wählerbasis der Regierung ihre quasioppositionelle Distanz aufgibt und sich endlich praktisch zu dem Vorhaben verhält, das sie im Herbst 1998 auf den Schild gehoben hat. Merke: Helmut Kohl, der damals „weg“-musste, ist jetzt wirklich gegangen, Rot-Grün kann erwachsen werden.
Schließlich muss die Sozialdemokratie wenigstens versuchen, den abgetakelten „Europakanzler“ auf seinem eigenen Felde zu schlagen und sich zur Europapartei zu entwickeln. Das sozialdemokratische Gespann Paris – London – Berlin, auch Rom, Den Haag und Stockholm nicht zu vergessen, ist trotz und gerade wegen seiner Meinungsverschiedenheiten noch attraktiv und kann supra- und transnationales Regieren erproben. Was die kapitalistische Selbstregulierung im Weltmaßstab anbetrifft, ist nämlich mittlerweile selbst in Washington D. C. und London eine gewisse Ernüchterung eingekehrt, und der gescheiterte Welthandelsgipfel hat selbst hartgesottene Freihändler sensibilisiert. Es liegt nun an der SPD, Parteiinteressen und nationale Interessen mehr zur Deckung zu bringen. Die deutsche Sozialdemokratie war immer die „nationale Staatspartei“. Dieses historische Kostüm wirkt nur dann nicht als Rückfall in einen überholten Protektionismus („0172 bleibt deutsch“), wenn es von nun an häufiger auf der europäischen Bühne zu sehen ist.
Claus Leggewie
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