Nach der Kommunalwahl: Istanbul macht endlich Ferien
Nach dem Sieg des Oppositionspolitikers İmamoğlu atmet die Stadt auf. Viele sind so entspannt, dass ein Schachzug Erdoğans fast unbemerkt bleibt.
Selbst Leute, die sich in der Vergangenheit im besten Fall ignoriert hätten, gehen plötzlich freundlich miteinander um. Als in der U-Bahn ein langhaariger Jüngling seine Gitarre auspackt und einen fetzigen Rocksong vom Stapel lässt, steht eine vollverschleierte ältere Dame auf, geht zu ihm hin und legt ihm zehn Lira in seine Sammelbox. „Mal was anderes hören als zu Hause, ist doch auch ganz nett“, sagt sie anschließend lächelnd zu ihrer Sitznachbarin.
Seit am letzten Sonntag im zweiten Anlauf der Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu mit einem überwältigenden Wahlsieg zum Oberbürgermeister gewählt wurde, hat sich die Stadt schlagartig verändert.
„Die Liebe hat über den Hass gesiegt“, versuchte İmamoğlu während seiner Siegesfeier Sonntagnacht etwas esoterisch verquast zu erklären, was in der Stadt passiert ist. Tatsächlich gehen die Menschen freundlicher miteinander um. Die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Wahlkampf immer wieder hochgeputschte Hass-Rhetorik „Wir gegen die Anderen“, die ständigen Angriffe auf angebliche „Verräter“ und „Terroristen“ waren selbst die AKP-Wähler so Leid, dass Hunderttausende von ihnen den sanfteren İmamoğlu gewählt haben.
Erdoğans erster Schachzug
Am Donnerstag erhielt İmamoğlu dann seine Ernennungsurkunde als Bürgermeister. Was im April, als die Wahl angefochten wurde, noch eine Sensation war, lief jetzt bereits wie nach einer bekannten Dramaturgie ab, einschließlich der Feier vor dem Rathaus. Dabei entging den meisten aber, dass Erdoğan, nachdem er zunächst das Wahlergebnis vom Sonntag anerkannte, bereits seinen ersten Zug im Kampf gegen İmamoğlu gemacht hat.
Nur drei Tage nach der Wahl unterzeichnete er ein Dekret des Innenministers, durch das die Befugnisse aller türkischen Bürgermeister in einem wichtigen Punkt eingeschränkt werden. Sie sollen nicht mehr die Chefs der städtischen Unternehmen – der Müllabfuhr, der Parks, der städtischen Theater und Museen – ernennen dürfen. Über die Stellenbesetzungen soll zukünftig nur noch die Mehrheit des Stadtparlaments entscheiden.
Was sich so demokratisch anhört, hat einen klaren machtpolitischen Hintergrund. Über die städtischen Unternehmen wird viel Geld verteilt, bislang an AKP nahe Firmen. Damit das so bleibt, entscheidet nun in Istanbul das nach wie vor von der AKP dominierte Stadtparlament.
Die angenehmen Dinge des Lebens
Doch das interessiert im Moment kaum jemanden. Die Politik macht jetzt erst einmal Pause. Es ist drückend heiß in Istanbul und das Meer wartet. Viele Menschen waren nur noch wegen der Wahl in der Stadt geblieben, und haben jetzt das Gefühl, sich endlich wieder den angenehmen Dingen des Lebens zuwenden zu können.
In der Türkei bleiben die Schulen ab Mitte Juni bis Mitte September für drei Monate geschlossen. Deshalb machen sich viele Familien auf, um den Sommer entweder in den Dörfern zu verbringen, aus denen sie oder ihre Eltern einst nach Istanbul ausgewandert sind, oder aber sie beziehen das Sommerhaus der Familie, das meistens an der Ägäisküste steht.
Autos werden beladen, Nachbarn wünschen sich „İyi yazlar“, also einen schönen Sommer, und langsam leert sich die Stadt. Aber auch diejenigen, die zurückbleiben, wirken glücklich wie schon lange nicht mehr. „Du stehst kaum noch im Stau und die Stadtstrände am Marmarameer sind auch gar nicht so schlecht“, erzählt ein völlig relaxter Bekannter im Café, wo man jetzt auch immer einen Platz findet, um in Ruhe seine Zeitung zu lesen. Mindestens bis Mitte September sollte das augenblickliche Glücksgefühl anhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?