Nach der Europawahl: Die Fete ist vorbei
Nach den Erfolgen der Rechten geht die größte Gefahr nicht vom Europaparlament aus – sondern von den nationalen Regierungen.
BRÜSSEL taz | Die große Wahlparty ist es dann doch nicht geworden. Dabei hatte Martin Schulz, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, alles so gut wie perfekt vorbereitet. Schon am Sonntagabend, Stunden vor den ersten Hochrechnungen, ließen Schulz und Genossen auf der Place du Luxembourg vor dem Europaparlament in Brüssel eine Reggaeband aufspielen. Punkt 22 Uhr wollte Schulz zu den Massen sprechen. „Finde heraus, wer den Topjob übernimmt, genieße diese einzigartige europäische Wahlnacht“, hieß das Motto.
Doch Schulz, der den Wahlabend zunächst in Berlin verbracht hatte, kam nicht wie erhofft als Sieger am Hauptsitz der Europäischen Union an. Er musste sich mit dem zweiten Platz begnügen, hinter seinem konservativen Erzrivalen Jean-Claude Juncker. Die Menge jubelte verhalten. Die Fete war schnell vorbei.
Auch drinnen im Europaparlament war die Stimmung nicht gerade berauschend. Schulz kam zu spät, Juncker wirkte müde. Obwohl sich die beiden Kandidaten keinen kritischen Fragen stellen mussten – als Stichwortgeber fungierten ihre eigenen Pressesprecher –, wirkte ihre Nachwahlshow einigermaßen lustlos. Vermutlich lag es an den Ergebnissen, die über riesige Monitore ins Parlament übertragen wurden.
Keine demokratische Trendwende
Denn diese sind, auch wenn es an diesem Abend noch niemand zugeben wollte, frustrierend. Obwohl die Wähler zum ersten Mal mit europaweiten Spitzenkandidaten gelockt wurden, stieg die Wahlbeteiligung insgesamt nur minimal – von 43 auf 43,09 Prozent. Man musste schon sehr bescheiden sein, um diesen kaum merklichen Anstieg zur demokratischen „Trendwende“ hochzujubeln, wie es der liberale Frontrunner Guy Verhofstadt versuchte.
In Wahrheit war die Idee mit den Spitzenkandidaten ein Flop. Zwar ist ihr Erfinder, SPD-Mann Schulz, in Deutschland ganz gut damit gefahren – immerhin konnte er das Wahlergebnis für die SPD deutlich verbessern. Doch schon jenseits der Grenzen, in Frankreich, wo Schulz ebenfalls immer wieder in den Wahlkampf eingriff, versagte die neue Zauberformel. Die französischen Sozialisten fuhren mit 13,9 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein, Premier Manuel Valls sprach von einem „Erdbeben“.
Schlimmer noch: Der rechtsextreme Front National, vor dem auch Schulz immer wieder gewarnt hatte, lag am Ende mit 24,95 Prozent vorn. Seine Führerin, Marine Le Pen, hat nicht nur im rechten, sondern vor allem im linken, sozialistischen Lager gewildert. Sie profitierte von einer antieuropäischen Stimmung, die auch in anderen Ländern den guten alten „Genossen Trend“ ablöste.
Keine Weimarer Verhältnisse
In Großbritannien liegt die Ukip mit 28, in Dänemark die Volkspartei mit 23 Prozent vorn. Ebenso beängstigend gute Ergebnisse erzielten die Rechtspopulisten in Österreich, Finnland und – mit Abstrichen – in den Niederlanden. Insgesamt erzielten die Rechten bei dieser Europawahl mit rund 20 Prozent das beste Ergebnis aller Zeiten. Populistische Parteien werden im neuen EU-Parlament gut ein Viertel der Sitze einnehmen, mehr als Grüne und Liberale.
Allerdings werden sie noch keine Weimarer Verhältnisse schaffen und die parlamentarische Arbeit lahmlegen, da sind sich die meisten Experten einig. Denn die Rechten sind einander nicht grün. Bisher haben nur die Französin Marine Le Pen und der niederländische Muslimfeind Geert Wilders eine feste Zusammenarbeit angekündigt. Der Brite Nigel Farague von der Ukip möchte mit diesem braunen Bündnis nichts zu tun haben, Bernd Lucke von der erstaunlich starken AfD auch nicht. Und was aus den übrigen Rechtsauslegern wird, wenn sie im Juli zur Eröffnung des neuen Parlaments in Straßburg ankommen, wissen sie zum Großteil wohl selbst noch nicht.
Weil die Rechten so schlecht organisiert sind, dürften die Liberalen auch in Zukunft die drittgrößte Fraktion stellen, die Grünen sehen sich weiter als vierte Kraft. Mit den führenden, wenn auch arg zusammengeschrumpften Konservativen und den Sozialdemokraten wollen sie dafür sorgen, dass das Parlament liberal und tolerant bleibt.
Proeuropäer geschwächt, aber weiter die Mehrheit
Mit 523 von 751 Mandaten verfügen diese Fraktionen über eine erdrückende Mehrheit. Der Rechtsruck hat die Proeuropäer also nicht an den Rand gedrängt. Allerdings sind sie schwächer geworden: Bis zur Wahl verfügten sie noch über 609 Mandate. Jetzt sind es fast 100 weniger.
Und damit könnte auch das politische Gewicht des Europaparlaments abnehmen. Denn je mehr Le Pen & Co. das Hohe Haus für ihre populistischen Tiraden nutzen, desto weniger werden es die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitglieder noch ernst nehmen.
Dabei geht die eigentliche Gefahr gar nicht von Straßburg aus, sondern von den nationalen Regierungen und ihren Vertretern im Brüsseler Ministerrat. Sie tragen schon zu einem Gutteil die Verantwortung dafür, dass die Rechten überhaupt so weit kommen konnten. Mit Parolen gegen Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien hat die britische Regierung, hat aber auch die bayerische CSU die EU-Gegner überhaupt erst hoffähig gemacht. Und die nationalen Politiker in den jeweiligen EU-Ländern sind es auch, die nun vor den Populisten einknicken könnten.
In der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik sind sie den Predigern der Abschottung bereits weitgehend entgegengekommen. Die Festung Europa wird immer mehr ausgebaut, selbst die Flüchtlingsdramen vor Lampedusa mit Hunderten von Todesopfern haben daran nichts geändert.
Rolle rückwärts
Auch in der Sozialpolitik geht fast nichts mehr. Bei der Entsenderichtlinie, mit der Dumpinglöhne für Leiharbeiter verhindert werden sollten, stehen die EU-Staaten auf der Bremse. Eine gemeinsame Arbeitslosenkasse für die Eurozone, wie sie Frankreichs Präsident François Hollande vorgeschlagen hatte, wurde von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gestoppt. Als Nächstes sind wohl Hartz-IV-Leistungen für Zuwanderer dran. Merkel hat schon neue restriktive Gesetze angekündigt – genau wie es die Rechten fordern.
Zwar verlangen Sozialdemokraten und Linke ein Ende der antiliberalen und asozialen Politik. „Die europäische Politik muss jetzt endlich auf Wachstum und Arbeitsplätze umorientiert werden“, sagte etwa der sozialistische Premier Frankreichs, Manuel Valls. „Wir fordern einen Politikwechsel“, sekundierte der Chef der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Hannes Swoboda. Die Genossen möchten dies sogar zur Vorbedingung für eine mögliche Unterstützung des Konservativen Juncker bei der Wahl zum Kommissionspräsidenten machen. Aber statt einer progressiven Wende droht nun eine Rolle rückwärts.
Juncker unter Beschuss
Wenn es dumm läuft, könnten die Staats- und Regierungschefs sogar einen Anschlag auf die Demokratie unternehmen. Bei ihrem Sondergipfel hinter verschlossenen Türen und beim informellen Abendessen am heutigen Dienstagabend in Brüssel wollen sie nämlich über das weitere Vorgehen beraten, vor allem über die Frage, wer neuer Präsident der EU-Kommission wird. Der britische Premier Cameron hat bereits offen ausgesprochen, dass er sich über das Ergebnis der Europawahl hinwegsetzen und sowohl Schulz als auch Juncker abschießen will. Beide sind dem Briten zu proeuropäisch – die rechte Ukip lässt grüßen.
Cameron ist nicht allein. Auch der rechtskonservative Premier Ungarns, Viktor Orbán, hat sich gegen Juncker ausgesprochen – dabei ist er Mitglied der konservativen Parteienfamilie EVP, der auch Merkels CDU angehört. Ein weiterer Wackelkandidat ist der niederländische Regierungschef Mark Rutte, der als enger Verbündeter Merkels gilt. Er fühle sich nicht an die Spitzenkandidaten gebunden, die ohnehin nur eine „Erfindung“ des Europaparlaments seien, sagte er in einem Interview.
Es zeichnet sich also ein schwerer Machtkampf ab. Ausgerechnet die Regierungschefs jener Länder, in denen die Rechte besonders stark ist, wollen sich über die demokratische Entscheidung der Wähler hinwegsetzen und einen eigenen Kandidaten für die Leitung der EU-Kommission durchboxen. Wenn sie sich durchsetzen, wäre dies der wohl größte Sieg der Rechtspopulisten. Es wäre ein Sieg über die noch schwache europäische Demokratie.
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