Nach der Bundeswehrreform: Soldaten unzufrieden wie noch nie
Häufige Versetzungen, fehlende Rückzahlungen bei Arztrechnungen: Unter den Bundis wächst der Unmut. Nun ist es an Ursula von der Leyen, etwas zu ändern.
BERLIN dpa | Die Beschwerden von Soldaten über Missstände bei der Bundeswehr haben in diesem Jahr einen Höchststand erreicht. Bis zum 23. Dezember gingen beim Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus 5061 Beschwerden ein und damit 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Gemessen an der Zahl der Soldaten ist das der höchste Stand seit Beginn der Erfassung 1959.
Königshaus und der Bundeswehrverband führen die Unzufriedenheit zu einem großen Teil auf die Bundeswehrreform zurück. Die Soldaten-Gewerkschaft fordert schnelle Nachbesserungen.
Die sehr ehrgeizige Planung und das hohe Tempo bei Grundsatzentscheidungen hätten dazu geführt, dass die individuellen Bedürfnisse der Soldaten zu wenig berücksichtigt worden seien, sagte der Wehrbeauftragte des Bundestags der Nachrichtenagentur dpa. „Die Soldaten fragen sich: Was ist eigentlich die positive Veränderung gegenüber dem vorhergehenden Zustand?“ Es gehe nicht nur um Kommunikationsmängel. „Es sind die Inhalte selbst, die zumeist Anlass der Verärgerung sind.“
Auch der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, machte Reformfehler für den Frust verantwortlich. „Wer derart brutal einschneidet, erzeugt immer auch Reformverlierer“, sagte er der dpa. „Es gibt aufgrund der Geschwindigkeit unheimlich viele Dinge, die nicht erklärt werden konnten oder noch nicht rund laufen.“
Bloß kein Kurswechsel
Wüstner forderte die neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zum Handeln auf. „Von der Leyen kann am ehesten punkten, wenn sie bestimmte Fehler der Bundeswehrreform schnellstmöglich ausbügelt. Dann wird sie schnellstmöglich die Herzen der Soldaten erreichen“, sagte der Verbandschef. Von einem grundsätzlichen Kurswechsel riet er aber ab. „Wenn man jetzt eine Reform der Reform starten würde, dann würde das der Seele der Armee den Garaus machen.“
Kernpunkte der Reform sind die Aussetzung der Wehrpflicht, die Verkleinerung der Truppe von 250 000 auf 185 000 Soldaten und die Schließung von 32 Bundeswehrstandorten. Rund 90 weitere Standorte werden teils drastisch verkleinert. Im Koalitionvertrag haben sich Union und SPD darauf verständigt, dass es keine Reform der Reform, aber gegebenenfalls Nachbesserungen geben werde.
Als einen Grund für den Frust in der Truppe nannte Königshaus die häufigen Versetzungen. Inzwischen gebe es bei der Bundeswehr weit mehr als 50 Prozent Pendler. „Viele fühlen sich von ihrem Dienstherrn alleingelassen. Die Anlässe für Versetzungen müssen reduziert werden“, forderte Königshaus.
Unzufriedenheit über Reform
Viele Beschwerden betreffen auch Verzögerungen bei Beihilfezahlungen für Arztrechnungen durch personelle Umstrukturierungen. „Die Situation ist besonders schwierig, weil die Patienten in Vorleistung gehen müssen, teilweise Überziehungskredite in Anspruch nehmen müssen“, sagte Königshaus.
Der Wehrbeauftragte hatte bereits in seinen letzten beiden Jahresberichten auf die Unzufriedenheit über die Reform hingewiesen „Wir haben keine echte Besserung, was dieses Thema angeht“, sagte er. „Eine Beruhigung hat sich dadurch ergeben, dass eine gewisse Gewöhnung an die Situation eingetreten ist, aber das Grundproblem bleibt ja bestehen.“
Wüstner betonte, dass von der Leyen angesichts zahlreicher Aufgaben nicht die übliche Schonzeit von drei Monaten haben werde. „Eigentlich hat sie keine 100 Tage, weil eben so viele Herausforderungen vor der Tür stehen: Afghanistan, die Neuausrichtung selbst und vieles mehr.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity