Nach den Wahlen in Ägypten: Muslimbrüder auf Kuschelkurs
Die Islamisten in Ägypten wollen Demokratie, Justiz und höhere Löhne. Nur eines wollen sie nicht: Mit den radikalen Islamisten koalieren. Ein schwieriger Weg.
KAIRO taz | Es ist ein Testfall, wie Islamisten und Demokratie zusammenpassen. Wenn am Montag erstmals das frei gewählte ägyptische Parlament in Kairo zusammentritt, werden jene, die die Religion als wichtigen Referenzrahmen in der Politik sehen, die meisten Sitze einnehmen. Genau gesagt stellen sie fast drei Viertel der 498 gewählten Abgeordneten.
Größter Wahlsieger ist erwartungsgemäß die moderat-islamistische Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) der Muslimbruderschaft. Überraschend ist dagegen der Erfolg der El-Nour-Partei (Partei des Lichts) der ultraislamistischen Salafisten. Den Rest teilen sich liberale und säkulare Parteiblöcke. Der Block "Die Revolution geht weiter", die wichtigste Parteigründung der Tahrir-Aktivisten, konnte gerade einmal 2 Prozent der Stimmen auf sich ziehen.
Ist das Alte also hinweggefegt worden, bleibt die Frage, wie die islamistischen Parteien die zukünftige Politik des Landes am Nil gestalten werden. Mit ziemlicher Sicherheit nicht zusammen, lautet die erste Antwort. Denn die Muslimbruderschaft und die Salafisten sind sich spinnefeind, warten sie doch mit konkurrierenden Konzepten auf, welche Rolle der Islam in der Politik spielen soll. Schwebt den Muslimbrüdern eine eher türkische Variante als moderne islamistische Partei vor, träumen die Salafisten von einem Ägypten nach dem Vorbild Saudi-Arabien.
Die FJP hat in den letzten Tagen immer wieder deutlich gemacht, dass sie eine Koalition mit der El-Nour-Partei ausschließt. "Wir brauchen kein islamisch-islamisches Parteienbündnis, das das Land polarisiert", erklärt Mohammed al-Beltagi, Chef der Kairoer FJP, in einem Gespräch mit der taz. "Wir wollen die Macht trotz unserer Stärke im Parlament nicht monopolisieren, sondern streben eine möglichst breite Teilnahme der anderen Parteien an der Lösung der Probleme des Landes an", sagt er.
Und Probleme sieht er mehr als genug, die, wie er sagt, "nur in Teamarbeit" angegangen werden können. Er zählt seine Prioritäten auf. "Wir brauchen eine Art nationale Versöhnung, um dann gemeinsam ein Gremium zu schaffen, das die neue Verfassung ausarbeitet", führt er zunächst an. "Wir müssen uns um die Opfer dieser Revolution kümmern, eine unabhängige Justiz fördern, Löhne anpassen und ein Mindestgehalt durchsetzen. Die lokalen Verwaltungen müssen reformiert und die dortige Korruption ausgemerzt werden, und wir müssen uns nicht zuletzt um die Arbeitslosigkeit und um die Versorgung der Bevölkerung mit Brot, Kochgas und Benzin kümmern", lautet die Mammutliste seiner Prioritäten.
Wie viel Macht soll die Religion bekommen?
Das Wort Scharia fällt bei al-Beltagi erst auf Nachfrage. "Der Westen versteht Scharia nur als drakonische Strafen, für mich ist deren oberstes Ziel, Würde und soziale Gerechtigkeit zu erreichen", sagt al-Beltagi, der zu den aufgeklärtesten Vertretern der Muslimbruderschaft zählt. Aber al-Beltagi ist kein Säkularist: "Die Religion bleibt ein wichtiger Faktor in der Renaissance Ägyptens. Ohne sie kann es kein Erneuerungsprojekt in Ägypten geben. Das würden auch die Menschen niemals akzeptieren", meint er.
Für Emad Gad vom Al-Ahram-Zentrum für Strategische Studien ist der Spielraum der Muslimbruderschaft für islamistische Experimente begrenzt. "Ägypten kann nur im Konsens regiert werden", glaubt er. Über zehn Millionen Ägypter seien koptische Christen, das entspreche etwa der Bevölkerung Belgiens. Die wichtigste Einkommensquelle des Landes sei der Tourismus. "Da kann man nicht daherkommen und den Leuten vorschreiben, was sie zu essen oder trinken haben", sagt er.
Und die Salafisten, die in der neu zu schreibenden Verfassung nicht die "Prinzipien" der Scharia, sondern deren "Regeln" zur Grundlage der ägyptischen Gesetzgebung machen wollen? Die haben bereits selbst angekündigt, in der Opposition bleiben zu wollen. Ihre ersten Gehversuche, ein saudisches Modell in Ägypten einzuführen, sind gescheitert. Etwa als eine informell gegründete Sittenpolizei einen Schönheitssalon in der ägyptischen Delta-Provinzstadt Banha stürmen wollte und die selbst ernannten Moralsheriffs von den Frauen mit Schuhschlägen aus dem Laden getrieben wurden, bevor sich Passanten auf der Straße ihrer noch etwas gewalttätiger annahmen.
"Die Ägypter mögen keinen Extremismus oder Radikalismus", glaubt Gad. Der beste Garant gegen Taliban-Experimente, sagt er, seien nicht die Elite und die Mittelklasse, sondern sei das Heer der Armen und Bildungslosen in den Armenvierteln und auf dem Land. Die hatten zwar aus Frömmigkeit oft die Salafisten gewählt, aber gerade aus diesen Reihen könnten sie wieder ausgebremst werden, vor allem wenn die Islamisten bessere Moral als Brot anbieten. "Diese Menschen", glaubt der Strategieforscher, wollen Spaß am Leben haben und werden sich von niemanden verbieten lassen, bei einer Hochzeit auf der Straße mit Verwandten, Freunden und Nachbarn gemeinsam zu tanzen".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“