Nach dem historischen Durchbruch: Es lebe die EU!
Was wird aus der CDU/CSU ohne Merkel? Das ist die zukunft- und wahlentscheidende Frage nach dem EU-Gipfel in dieser Woche.
D ass man sich in Deutschland jetzt über unsolidarische Niederländer und Österreicher aufregt, ist die beste Pointe an dem Zaubertrick, mit dem Kanzlerin Merkel in dieser Woche nach vielen matten Jahren die EU doch noch vorangebracht hat. Okay, der nationalkonservative FDP-Chef Lindner sieht das anders, aber deshalb ist er halt auch zum „Mr. 5 Prozent“ avanciert. Die liberale Mehrheitsgesellschaft dagegen unterstützt dank des zeitgemäßen Führungsgeschicks ihrer Kanzlerin eine institutionelle Weiterentwicklung der EU zur Fiskalunion. Und die EU könnte ein Stück vorwärtskommen.
Ja, wie? Müssen wir uns nicht empören, wie schlimm das wieder lief, wie die hehren europäischen „Werte“ missbraucht wurden für nationale Interessen – und dann auch noch Orbán? Nö, das wäre Ignoranz gegenüber dem Wesen von institutionalisiertem Streit und der Verschiedenartigkeit der europäischen Gesellschaften. Ich bin da bei Reinhard Bütikofer, dem Europastrategen der Grünen. „Das ist nicht der Geist der europäischen Gemeinsamkeit, aber es ist Realität, die wir zur Kenntnis nehmen müssen“, sagt Bütikofer. Und dann zählt er auf, was sein Wording vom „historischen Durchbruch“ rechtfertigt, nämlich die strukturelle Entwicklung durch den Bruch mit drei vormaligen Tabus (gemeinsame Schulden, Transferunion, EU-Steuern) und die Fastverdopplung des ökonomischen Volumens von 1 auf 1,8 Billiarden Euro, was die Bedeutung der EU-Kommission steigen lässt (wer zahlt, schafft an).
Den Streit innerhalb der EU kann man im Sinne von Aladin El-Mafaalanis „Integrationsparadox“ auch als Fortschritt sehen. Offene Gesellschaften erzeugen Gegenbewegungen und machen Interessen-, Verteilungs- und Zugehörigkeitskonflikte sichtbar. Nur autoritäre Salonlinke verlangen, dass man sich als Gemeinsames auf das verständigt, was sie selbst verabsolutieren.
Konflikte produktiv machen
In einer EU von 27 sich emanzipierenden Ländern können auch Deutschland und Frankreich nicht einfach „führen“ im Sinne von „bestimmen“. Führen heißt, die Konflikte produktiv machen. Also derzeit die zwischen den zwei Leadern, den Südländern, den Ostländern und der neuen Allianz der Nordeuropäer plus Österreich. Dabei muss man sich auch von Böse-gut-Denkgewohnheiten oder Geschlechteridealisierungen verabschieden. Die angeblichen „Nationalisten“ sind nicht nur rechtskonservativ (Kurz) oder keine-Ahnung-was (Rutte), sondern vor allem sozialdemokratisch (Dänemark, Schweden, Finnland). Junge Staatschefinnen und drei kleine grüne Koalitionspartner machen auch mit. Zu dieser komplizierten neuen Realität gehört vor allem auch, dass keine der Gruppen und kein Mitgliedsland die Bekämpfung des Klimawandels zur Priorität gemacht hat, auch die Bundesregierung nicht.
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Je näher das Ende der Kanzlerinnen-Ära Merkel rückt, desto größer ist die Versuchung, die schwammigen Jahre zu ignorieren und das Ende zu glorifizieren. Das bringt nichts. Es geht darum, zu verstehen: Wo Merkel heute ist, da ist die liberale Mehrheitsgesellschaft, deren Kanzlerin sie ist. Das deckt sich aber – wie auch bei EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen – nicht mehr mit der Partei, aus der sie kommt. Die ist wohl in relevanten Teilen dahinter. Und es deckt sich auch nicht mit den politischen Notwendigkeiten der Gegenwart. Die liegen vor uns. Deshalb darf es keinen Bundestagswahlkampf geben, in dessen Zentrum nicht Europa und Wirtschaftsmodernisierung mit Doppelblickrichtung auf Arbeitslose und Klimakrise steht. Wohin will die Union ohne Merkel? Vor oder zurück? Das ist die zukunftentscheidende Frage. Und nicht, wer antritt.
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